Im Roman Das Versprechen erzählt auf der ersten Ebene einer Rahmenerzählung ein namenloser Ich-Erzähler von einem in Chur gehaltenen Vortrag „über die Kunst, Kriminalromane zu schreiben“ (Dürrenmatt 1980c, S. 11), und seiner nächtlichen Begegnung mit „Dr. H., de[m] ehemalige[n] Kommandanten der Kantonspolizei Zürich“ (Dürrenmatt 1980c, S. 12) an der Hotelbar. Dieser bietet dem Ich-Erzähler an, ihn am nächsten Morgen mit dem Wagen zurück nach Zürich zu nehmen. Auf dieser Fahrt hält Dr. H. an einer heruntergekommenen Tankstelle an, vor der ein offenbar verwirrter Alter sitzt und brummelt: „‚Ich warte, ich warte, er wird kommen‘“ (Dürrenmatt 1980c, S. 16).
Das Rätsel dieser merkwürdigen Begegnung an der Tankstelle löst Dr. H. auf der weiteren Heimfahrt im Gespräch mit dem Krimiautor und Ich-Erzähler rasch auf,Footnote 12 indem er diesem erstens erklärt, dass ihn die krimispezifische „‚Fiktion […] wütend‘“ macht, weil „‚[d]er Wirklichkeit […] mit Logik nur zum Teil beizukommen‘“ sei und weil in Kriminalromanen „‚der Zufall keine Rolle‘“ spiele, in der Wirklichkeit hingegen sehr wohl (Dürrenmatt 1980c, S. 18). Zweitens will und wird er ihm, um diese seine Einschätzung exemplarisch zu belegen, eine Geschichte erzählen, die Geschichte des ‚Kommissärs‘ Matthäi, der „‚vor nun bald neun Jahren‘“ der beste Kriminalkommissar Zürichs war, ja „‚ein Genie‘“ (Dürrenmatt 1980c, S. 19) sogar, nun aber, wie eben gesehen, ein versoffener und völlig heruntergekommener Tankstellenbetreiber ist. Nach dieser poetologischen, metafiktionalen und metanarrativen Einrahmung,Footnote 13 die im weiteren Verlauf des Romans hin und wieder aufgegriffen und dem Leser so ins Bewusstsein gerückt wird, erzählt Dr. H. seine Geschichte vom letzten Fall Matthäis, stets in doppelten Anführungszeichen, die seine intradiegetische Erzählung als wörtliche Rede markieren.
Dr. H., der Erzähler, ist dabei in seiner Binnenerzählung stets darum bemüht, seinem Gesprächspartner deutlich zu machen, woher er sein Wissen von den Ermittlungen Matthäis hat: Teilweise war er als Polizeichef selbst beteiligt und vor Ort, anderes wurde ihm zugetragen und „‚rapportiert‘“ (Dürrenmatt 1980c, S. 46). Auch die ‚Erzählgeschichte‘,Footnote 14 also die Geschichte des Erzählens dieser Geschichte, wird klar: Die Autofahrt ist längst zu Ende, als die Binnenerzählung Dr. H.s gerade begonnen hat. Sie wird deshalb bei einem ausgiebigen Mittagessen bis weit in den Nachmittag hinein fortgesetzt.
Im Zusammenhang mit dieser Erzählgeschichte räumt der Ich-Erzähler der ersten Ebene auch bald ein, dass er „die Erzählung des redegewaltigen Alten natürlich nicht immer so wiedergegeben [hat], wie sie [ihm] berichtet wurde“, sondern dass er „jene Teile seiner Geschichte, die er nicht von seinem Standpunkte aus, von seinem Erlebnis her“ erzählte, ‚neu geformt‘ hat (Dürrenmatt 1980c, S. 140 f.). Anders gesagt: Die Wiedergabe des Erzählberichts des intradiegetischen Erzählers Dr. H. durch den extradiegetischen Erzähler des Rahmens ist trotz der Verlässlichkeit und authentische Wiedergabe anzeigenden Anführungszeichen unzuverlässig bzgl. der Modalität des Erzählens, da sie entgegen den intrafiktionalen Tatsachen dem Erzähler Dr. H. immer wieder Innensicht in den Ermittler Matthäi und interne Fokalisierung auf ihn zuschreibt.
So tritt etwa, um dieses Verfahren exemplarisch zu belegen, Matthäi den Eltern des Mordopfers allein gegenüber, um ihnen vom Mord an ihrer Tochter zu berichten. Dennoch verfügt Dr. H. in seiner vom Erzähler des Rahmens modifizierten Erzählung über Innensicht in Matthäi: „Matthäi wartete. Es entging ihm nichts, und er wußte auf einmal, daß er diese Szene nie mehr vergessen würde“ (Dürrenmatt 1980c, S. 32). Und Dr. H. nimmt als Erzähler auch die Perspektive des Kommissärs ein, etwa nach dem Versprechen Bärlachs den Eltern gegenüber, den Mörder zu finden: „Der Kommissär stutzte. ‚Bei meiner Seligkeit‘, sagte er endlich. Was wollte er anderes“ (Dürrenmatt 1980c, S. 32).
Dr. H.s Erzählung folgt damit aber natürlich den Konventionen kriminalliterarischen Erzählens mit ihrer dominanten Bezugnahme auf die Wissensbestände des Ermittlers Matthäi. Denn dieser ist der Binnenerzählung Dr. H.s zufolge der Ermittler dieser Kriminalerzählung, auch wenn er mit seinen Ermittlungen scheitert.
Der Fall, an dem Matthäi scheitert, ist dieser: Die kleine Gritli Moser ist im Wald getötet worden. Ihre Leiche findet (zufällig) der Hausierer von Gunten, den sogleich die Polizei und die Dorfgemeinschaft für den Mörder halten. Nur Matthäi ist von seiner Schuld nicht überzeugt. Zudem lässt sich Matthäi gegenüber Gritlis Eltern zum titelgebenden Versprechen hinreißen, den Täter zu finden. Von Gunten tötet sich selbst in der Haft, was allseits als Schuldeingeständnis bewertet wird. Nur Matthäi wertet die Indizien anders, fühlt sich an sein Versprechen gebunden und zudem in der Pflicht, künftige Opfer des mutmaßlich noch unbekannten Mörders zu schützen, indem er diesen aufspürt – nun als privater Ermittler in eigener Sache.
Der von ihm als Berater hinzugezogene Psychiater Locher liefert die Hypothese für die Erklärung des Mordes an Gritli und weiterer ähnlicher Morde: „‚Es handelt sich nicht um einen Lustmord […], sondern um einen Racheakt‘“ (Dürrenmatt 1980c, S. 98), bei dem das kindliche Opfer eine dominante erwachsene Frau vertritt. Matthäi beschließt daraufhin, diesem Rachemörder an geeigneter Stelle – einer Landstraße zwischen Graubünden und Zürich – eine Falle zu stellen.Footnote 15 Er pachtet besagte Tankstelle, holt sich eine Haushälterin ins Haus, deren kleine Tochter Annemarie der ermordeten Gritli ähnelt, und wartet. Und tatsächlich scheint sein riskanter Lockvogelplan zu funktionieren: Annemarie hat wie Gritli von einem ‚Zauberer‘ Trüffelschokoladenkugeln erhalten und sich wieder mit ihm verabredet (Dürrenmatt 1980c, S. 125 f.), sodass Matthäi sich am Ziel glaubt, die Falle nur noch zuschnappen muss.
Im Spielfilm Es geschah am hellichten Tag, dessen Drehbuch Dürrenmatt gemeinsam mit dem Regisseur Ladislao Vajda verfasst hat,Footnote 16 schnappt sie bekanntlich zu, und Heinz Rühmann alias Matthäi fasst Gerd Fröbe als Kindermörder. Im Film endet die Kriminalerzählung also gattungskonform mit der Überführung des Täters.Footnote 17 Im Roman wartet der Kommissär allerdings vergeblich – mindestens bis zum Tag, an dem ihn Dr. H. und der Rahmenerzähler in seiner Tankstelle aufsuchen.
Der Roman endet aber gerade nicht mit diesem Scheitern des Ermittlers Matthäi, das der Erzähler Dr. H. auf das von Krimiautoren zu wenig berücksichtigte Wirken des Zufalls zurückführt. Denn auch ihm, Dr. H., hilft der Zufall, und die Aufklärungsgeschichte wird fortgesetzt und abgeschlossen: Kurz vor seiner Pensionierung wird er, wie er weiter erzählt, ans Sterbebett einer alten Dame gerufen. Diese hat in zweiter Ehe „‚den nun auch seligen Schrott‘“ (Dürrenmatt 1980c, S. 152) geheiratet, ihren deutlich jüngeren Chauffeur und Gärtner. Dieser Schrott, ein sehr schlichtes Gemüt, hat zwar die Ehe mit ihr nie vollzogen (Dürrenmatt 1980c, S. 153) und sich seiner in jeder Hinsicht überlegenen und dominanten Ehefrau, die er „‚Mutti‘“ nennt (Dürrenmatt 1980c, S. 153), vollkommen unterworfen. Für diese andauernde Erniedrigung hat er sich aber offenkundig – wie Frau Schrott in einer Mischung aus Naivität und Skrupellosigkeit angesichts ihres bevorstehenden Todes dem Dr. H. erzählt – ein Ventil gesucht und auf seinen Touren durchs Land, die sie ihm gestattet hat, kleine Mädchen getötet, eben auch Gritli. Als er aufbrechen will, um Annemarie, Matthäis Lockvogel, zu töten, kommt es zum Streit zwischen den ungleichen Eheleuten. Frau Schrott erinnert sich:
„‚Da wurde ich energisch, ‚Es gibt nichts, Albertchen‘, habe ich gesagt, ‚du hast es mir versprochen, reinige auf der Stelle den Hühnerstall und gib den Hühnern ordentlich zu fressen.‘ Da ist Albertchen zornig geworden, das erstemal in unserer Ehe, die doch sonst so harmonisch war, hat geschrien, ‚Ich bin nur dein Hausknecht‘, so krank war er, und ist hinausgerannt mit den Trüffeln und dem Rasiermesser zum Buick, und schon eine Viertelstunde später hat man mir telephoniert, er sei mit einem Lastwagen zusammengestoßen und gestorben […]‘.“ (Dürrenmatt 1980c, S. 160)
Dieser ‚Zufall‘ hat verhindert, dass Matthäis Hypothese vom Täter aus männlicher Demütigung bestätigt wird, seine Falle zum Erfolg und zur Festnahme des Täters führt. Der gescheiterte Matthäi hat für diese nachträgliche Lösung seines Falls aber längst kein Verständnis mehr (Dürrenmatt 1980c, S. 162).
Ein anderer ‚Zufall‘ – dass Dr. H. ans Sterbebett der Schrott gerufen wird und sie ihm beichtet – führt aber dazu, dass nicht nur der Fall Gritli Moser endgültig aufgeklärt wird, sondern erklärt auch, warum Matthäi mit seiner Falle an der Tankstelle keinen Erfolg gehabt hat. Und das geschieht ganz konform mit den Regeln des Detektivromans auf den letzten Seiten. Hier erweist sich also auch, dass die bis dahin gerechtfertigte Annahme des Lesers, Matthäi sei der Ermittler des erzählten Falls, falsch ist, zumindest ergänzungsbedürftig. Denn der Ermittler Dr. H. ist es – gemeinsam mit ‚Kommissar Zufall‘ –, der den Fall erfolgreich zum Abschluss bringt.