Zusammenfassung
Die ›Novelle‹ ist Produkt unterschiedlicher Zuschreibungen und Objekt zahlreicher Kontext- und Ortswechsel, die häufi g in den Werken selbst refl ektiert sind. Dem Nomadisieren novellistischer Stoffe, Formen und Traditionen im (nicht nur) europäischen Raum entsprechen regelmäßige Versuche einer ›Ver-ortung‹ des ›Ortlosen‹. Entsprechend wird zunächst der Fokus auf den ›Räu-men‹ und ›Ortswechseln‹ ausgewählter Novellentraditionen, v.a. im Umfeld der histoires tragiques, liegen — angefangen bei solchen auf geographischer und konfessionell-politischer Ebene über Druckorte und Standorte bis hin zu wechselnden Verortungen im Text- und Gattungssystem. Diesem System von ›Texten im Raum‹ steht ein System von ›Räumen im Text‹ zur Seite: Ein Blick auf die Orte und Ortswechsel in solchen Geschichten ermöglicht Aufschlüsse über immanente Raumkonzepte (Wunderkammer, Bildersaal, Salon) und bild-künstlerische Kontexte (Kartographie, Topologie). Mit der Multiperspektivierung und Fiktionalisierung der historia durch einen zunehmend imaginären Charakter räumlich strukturierter Bildbeschreibungen wird im 17. Jahrhundert der Grundstein für eine Verortung dieser Texte als (literarische) Gattung gelegt, die in Refl exionen über ihre »modernité« ihren Ausdruck findet.
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Anmerkungen
Vgl. hierzu und zum folgenden Stillers, Rainer: »Trecento«. In: Kapp, Volker (Hg.): Italienische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar 1992, S. 30–87, zu Boccaccio S. 70– 83. Gerade diese mittelalterlichen Schwänke wurden u.a. wegen ihrer ›Sinnenfülle‹ und Kleruskritik lange Zeit fälschlicherweise als ›modern‹ angesehen (vgl. S. 79).
Stillers (s. Anm. 1), Zitate S. 80, 82. — Zu ›Wegen‹ der Novellistik vgl. Haslinger, Adolf: »Vom Humanismus zum Barock«. In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Handbuch der deutschen Erzählung. Düsseldorf 1981, S. 37–55, 560–564. Er unterscheidet im Gefolge von Boccaccio und Bandello eine »Weiterführung der deutschen Exempel- und Schwankliteratur«, eine »Übernahme der europäischen Erzähl- und Novellenliteratur der Renaissance« und eine »Aufnahme der erzählerischen Kleinform (Erzählung, Novelle) in die erzählerischen Großformen (Roman, Novellenzyklus)« (S. 40).
Vgl. exemplarisch Kapp, Volker: »Cinquecento«. In: ders. (s. Anm. 1), S. 116–173, hier S. 169; Hinz, Manfred: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, S. 197, 200, 310–312, 323, 365.
Vgl. Schenda, Rudolf: »Jämmerliche Mordgeschichte. Harsdörffer, Huber, Zeiller und französische Tragica des 16. und 17. Jahrhunderts«. In: Kramer, Karl u.a. (Hg.): Volkskultur — Geschichte — Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag. Würzburg 21992, S. 530–551; Ders.: »Mordgeschichten«. In: Enzyklopädie des Märchens. Hg. von Brednich, Rolf Wilhelm u.a., Band 9, Berlin/New York 1999, Sp. 879–893. In diesem Nachschlagewerk fi nden sich auch Artikel über viele der hier besprochenen Autoren. — In der germanistischen Forschung hat diese Gattung wenig Aufmerksamkeit gefunden.
Vgl. jedoch Lugowski, Clemens: Wirklichkeit und Dichtung. Untersuchung zur Wirklichkeitsauffassung Heinrich von Kleists. Frankfurt a.M. 1936, S. 26–32 (zu Rosset);
Wiedemann, Conrad: »Vorspiel der Anthologie. Konstruktive, repräsentative und anthologische Sammelformen in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts«. In: Bark, Joachim/Pforte, Dietger (Hg.): Die deutschsprachige Anthologie. Bd. 2: Studien zu ihrer Geschichte und Wirkungsform. Frankfurt a. M 1969, S. 1–47, v.a. S. 19–33;
Brückner, Wolfgang: »Historien und Historie. Erzählliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts als Forschungsaufgabe«. In: Ders. (Hg.): Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Berlin 1974, S. 13–123;
Kühlmann, Wilhelm: »Lektüre für Bürger: Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhistorischen Reihenwerke Martin Zeillers (1589–1661)«. In: Brückner, Wolfgang u.a. (Hg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. 2 Bde. Wiesbaden 1985, Bd. 2, S. 917–942; Theiss, Winfried: »Nur die Narren und Halßstarrigen die Rechtsgelehrte ernehren … Zur Soziologie der Figuren und Normen in G. Ph. Hars-dörffers Schauplatz-Anthologien von 1650«. In: Ebd., S. 899–916; siehe v.a. auch die »Beiträge zum Wolfenbüttler Arbeitsgespräch Barocke Erzählsammlungen« in: Sim-pliciana 1999, S. 11–258. — In der Grimmelshausenforschung sind diese Werke seit längerem bekannt; vgl. Weydt (s. Anm. 7), v.a. S. 47–187, 432–440; Battafarano, Italo Michele: »Paolo Grillando, François de Rosset, Martin Zeiller, Grimmelshausen: Die Literarisierung von Hexenprozeßakten in der frühen Neuzeit«. In: Simpliciana 1998, S. 13–24.
Vgl. Mannack, Eberhard: Andreas Gryphius. Stuttgart 21986, S. 61f.
Vgl. Lever, Maurice: Romanciers du Grand Siècle. [O.O.] 1996, S. 79 zu französischen Dramen der Zeit, die »en tout point comparables« seien mit den histoires tragiques.
Auf dieses Forschungsdefi zit verwiesen u.a. Dedert, Hartmut: »Vor einer Theorie der Novelle. Die Erzählung im Spiegel der aufklärerischen Gattungsdiskussion.« In: ZfdPh 112 (1993), H. 4, S. 481–508; Verf.: »Schauplätze jämmerlicher Mordgeschichte. Tradition der Novelle und Theatralität der Historia bei Heinrich von Kleist.« In: Kleist-Jahrbuch 2001, S. 196–225.
Vgl. Meid, Volker: »Barocknovellen? Zu Harsdörffers moralischen Geschichten.« In: Euphorion 62 (1968), S. 72–76.
Siehe dagegen Gemert, Guillaume van: »Geschichte und Geschichten. Zum didaktischen Moment in Harsdörffers ›Schauplätzen‹.« In: Battafarano, Italo Michele (Hg.): Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Bern u.a. 1991, S. 313–331, hier S. 318.
Siehe symptomatisch: Berns, Jörg Jochen (Hg.): Erzählte Welt. Frühneuzeitliche Erzählliteratur aus den Beständen der Universitätsbibliothek Marburg. Marburg 1993, S. 148f., wo selbst Boccaccios Decamerone (wohl versehentlich) unter »Buntschreiberei« geführt wird.
Vgl. Brunner, Walter: Martin Zeiller 1589–1661. Ein Gelehrtenleben. Graz 1990, S. 46–71. Zur Druckgeschichte vgl. Johann Görlins »Dedication« in der Ausgabe von 1655 (s. Anm.11), hier S.):(iiijr–vr. Der laut Görlin unauthorisierte Druck im protestantischen Danzig durch den umtriebigen Verleger und Buchhändler Andreas Hünefeld erschien 1628 und 1640.
Vgl. auch: Ferraris, Francesca: »Exotismus und Intertextualität. Die Literarische Kuriositätensammlung«. In: Kühlmann, Wilhelm/Neuber, Wolfgang (Hg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 465–484.
Vgl. Schramm, Helmar: »Kunstkammer — Laboratorium — Bühne im Theatrum Eu-ropaeum. Zum Wandel des performativen Raums im 17. Jahrhundert«. In: ders. u.a. (Hg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Berlin/New York 2003, S. 10–34.
Campanella, Tommaso: »Sonnenstaat«. In: Heinisch, Klaus J. (Hg.): Der utopische Staat. Reinbek 1960, S. 111–169, hier S. 120–122.
Wolf, Gerhard: »Gestörte Kreise. Zum Wahrheitsanspruch des Bildes im Zeitalter des Disegno«. In: Reinberger, Hans-Jörg u.a. (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin 1997, S. 39–62, hier S. 50.
Die meines Wissens einzige Ausnahme ist der Beitrag von Locher, Elmar: »Hypotypose und memoria in der Ästhetik Harsdörffers«. In: Berns, Jörg Jochen/Neuber, Wolfgang (Hg.): Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechnik vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Wien u.a. 2000, S. 67–88, hier v.a. S. 79–81.
Vgl. grundsätzlich Daston, Lorraine/Park, Katharine: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750. Berlin 2002;
Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993.
Eine erste Ausgestaltung ist dort z.T. schon vorgenommen, wie die wesentlich ausführlichere Version von Cervantes‹ La fuerza de la sangue im Großen Schauplatz lust-und lehrreicher Geschichte nahelegt, die gleichwohl viel kürzer ist als das Original; vgl. Harsdörffer: LLG II, S. 124–128. Vgl. auch Rötzer, Hans Gerd: »Die Rezeption der Novelas Ejemplares bei Harsdörffer«. In: Chloe. Beihefte zum Daphnis 9 (1990), S. 365–383.
Vgl. Berns, Jörg Jochen: Film vor dem Film. Bewegende und bewegte Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Marburg 2000.
Vgl. Poli, Sergio: »Violence et mythe dans l’histoire tragique«. In: Debaisieux, Martine/Verdier, Gabrielle (Hg.): Violence et fi ction jusqu’à la Révolution. Tübingen 1998, S. 55–62; Ders.: Histoire(s) tragique(s) (s. Anm. 27) mit einer umfangreichen kommentierten Zusammenstellung dieser Topoi.
Vgl. Berns, Jörg Jochen: »Zeitung und Historia: Die historiographischen Konzepte der Zeitungstheoretiker des 17. Jahrhunderts«. In: Daphnis 12 (1983), H. 1, S. 87–110;
Krebs, Jean-Daniel: »Journalismus und Novelle«. In: Wolfenbütteler BarockNachrichten 14 (1987), H. 1, S. 6ff.; Ders.: »Deutsche Barocknovelle zwischen Morallehre und Information: Georg Philipp Harsdörffer und Théophraste Renaudot«. In: Modern Language Notes 103 (1988), No. 3, S. 478–503. — Einen extremen Fall stellt eine deutsche Decamerone-Übersetzung von 1561 dar, in der der Begriff ›Novelle‹ mit ›newe Zeitung‹ übersetzt wird; vgl. den Kommentar zu Katalog-Nr. 187 in: Berns, Jörg Jochen (Hg.): Erzählte Welt (s. Anm. 3), S. 149 (Titelbild S. 148) zu: Cento Nouella Johannis Bocatij. Das ist Hundert Newer Historien […]. Straßburg 1561. Noch in Johann Heinrich Zedlers Grossem vollständigem Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste (Nachdruck Graz 1961) fi ndet sich unter dem Stichwort »Novellen« (neben der primären, juristischen Begriffsverwendung) ein Verweis auf das Stichwort »Zeitung« (vgl. Band 24, Sp. 1507–1513).
Vgl. Lever, Maurice: »De l’information à la nouvelle: Les ›canards‹ et les ›histoires tragiques‹ de François de Rosset«. In: Revue d’Histoire Littéraire de la France 79 (1979), No. 4, S. 577–593; ders.: Canards sanglants. Naissance du fait divers. Paris 1993.
Zitiert nach: Steinecke, Hartmut/Wahrenburg, Fritz (Hg.): Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart 1999, S. 40f.
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Breuer, I. (2005). Tragische Topographien. In: Böhme, H. (eds) Topographien der Literatur. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05571-2_14
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