Zusammenfassung
Klassische Texte können zentrale ästhetische Probleme einer Gesellschaft lösen, die bis dahin ungelöst waren oder sogar unlösbar schienen. Ein Problem der heutigen westlichen Demokratien, die ihrer Programmatik nach Meritokratien sind und sich in einem langfristigen Strukturwandel aus patriarchalischen in postpatriarchalische Gesellschaften transformieren, ist die Entwicklung einer postpatriarchalischen Ästhetik oder Wahrnehmung, die die biologische Geschlechterdifferenz nicht zusätzlich kulturell normiert und frei von hierarchischen Assoziationen imaginiert. Die Wissenschaft steht vor der Aufgabe, Geschlecht als biologische, soziale und kulturelle Kategorie zu begreifen, Theorien, Methoden, Sehraster, Darstellungsschemata zu konstruieren, die die wirkliche Geschichte, die Männer und Frauen gemeinsam erlebt haben, und die komplizierte Wechselwirkung zwischen biologischem Geschlecht, Diskursen über Geschlechterbeziehungen (kulturellem oder symbolischem Geschlecht) und gelebten Geschlechterbeziehungen (sozialem Geschlecht) sichtbar machen. [1] Die Kunst steht vor der Aufgabe, tradierte patriarchalische Mythen, Symbole, Bilder, Erzählschemata, Deutungsschemata in postpatriarchalische Imaginationen zu transformieren. Diese Transformation ist nicht zuletzt deshalb so schwierig, weil die europäischen Literaturen von einer nichtväterlichen, androzentrisch-asketischen Bilderwelt geprägt sind: von den Vorstellungen und Zwangsvorstellungen mittelalterlicher Theologen, die weder Ehemänner noch Väter waren, sondern zu sexueller Askese verpflichtete Junggesellen.
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Anmerkungen
Vgl. Ursula A.J. Becher, Jörn Rüsen (Hrsg.), Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung, suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 725, Frankfurt/M. 1988. Michelle Perrot (Hrsg.), Geschlecht und Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich? Frankfurt/M. 1989.
Karlheinz Stierle, »Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie, in: Jürgen Kocka, Thomas Nipperdey (Hrsg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 3, München 1979, 85–118.
Hayden White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Fischer Wissenschaft 2480, Frankfurt/M. 1990, hier 58–59.
Roland Barthes, Leeoni Lektion. Französisch und Deutsch. Antrittsvorlesung im Collège de France. Gehalten am 7. Januar 1977, edition suhrkamp 1030, Frankfurt/M. 1980, hier 22–23.
Nathalie Sarraute, Zeitalter des Mißtrauens. Essays über den Roman, suhrkamp taschenbuch 223, Frankfurt/M. 1975.
Ursula Liebertz-Grün, Ordnung im Chaos. Studien zur Poetik der Bettine Brentanovon Arnim, Beiträge zur neueren Literaturgeschichte III, 92, Heidelberg 1989, hier 136, 140.
Harald Fricke, Die Sprache der Literaturwissenschaft. Textanalytische und philosophische Untersuchungen, München 1977, hier 253–265.
Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 696, Frankfurt/M. 1987.
Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, edition suhrkamp 1365, Frankfurt/M. 1986.
Vgl. Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt/M. 1984.
Zur Methode vgl. Wilhelm Voßkamp, »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«, in: Walter Hinck (Hrsg.), Textsortenlehre — Gattungsgeschichte, medium Literatur 4, Heidelberg 1977, 27–44.
Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Sprache und Geschichte 10, Stuttgart 1986, hier 64–122. Die Fragestellung impliziert einen methodischen Idealismus, keineswegs jedoch einen ontologischen Idealismus. Zu dieser Unterscheidung vgl. Karl Acham, »Historizität und Generalisierung. Zur Rolle des Historischen in den theoretischen Sozialwissenschaften, in: Kocka, Nipperdey (Anm. 2), 153–220, hier 172–173.
Eleanor Commo Mc Laughlin, »Equality of Souls, Inequality of Sexes: Woman in Medieval Theology«, in: Rosemary Radford Ruether (Hrsg.), Religion and Sexism. Images of Woman in the Jewish and Christian Traditions, New York 1974, 213–266.
Helen Schüngel-Straumann, »›Von einer Frau nahm die Sünde ihren Anfang‹? Die alttestamentlichen Erzählungen von ›Paradies und Sündenfall‹ und ihre Wirkungsgeschichte«, in: Elisabeth Moltmann-Wendel (Hrsg.), Weiblichkeit in der Theologie. Verdrängung und Wiederkehr, Gütersloh 1988, 31–55.
Vgl. Andrée Lehmann, Le role de la femme dans l’histoire de France au moyen âge, Paris 1952. Edith Ennen, Frauen im Mittelalter, 2. Aufl., München 1985. Petra Kellermann-Haaf, Frau und Politik im Mittelalter. Untersuchungen zur politischen Rolle der Frau in den höfischen Romanen des 12., 13. und 14. Jahrhunderts, Göppinger Arbeiten zur Germanistik 456, Göppingen 1986. Ursula Liebertz-Grün, »Women and Power: On the Socialization of German Noblewomen (1150–1450)«, Monatshefte 82 (1990), 17–37.
Ursula Peters: »Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte? Überlegungen zur Problematik einer neueren Forschungsrichtung«, in: Georg Stötzel (Hrsg.), Germanistik — Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, 2 Bde., Berlin, New York 1985, II, 179–198.
Hedda Ragotzky, Horst Wenzel (Hrsg.), Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990.
Vgl. Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 2 Bde., München 1986. Jack Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 781, Frankfurt/M. 1986. André Burguière, Christiane Klapisch-Zuber, Martine Segalen, Francoise Zonabend (Hrsg.), Histoire de la famille, 2 Bde., Paris 1986. Georges Duby, Ritter, Frau und Priester. Die Ehe im feudalen Frankreich, suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 735, Frankfurt/M. 1988.
Wer vom Schema einer literarischen Gattung spricht, arbeitet mit einer idealtypischen Konstruktion, die der Individualität der Texte nicht adäquat sein kann und die sich heuristisch nur durch den Erkenntnisgewinn rechtfertigen läßt, den sie ermöglicht. Zu Ehe und Liebe in der höfischen Literatur vgl. Ursula Liebertz-Grün, Zur Soziologie des ›amour courtois‹. Umrisse der Forschung, Beihefte zum Euphorion 10, Heidelberg 1977. Rüdiger Schnell, Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern, München 1985.
Vgl. Bumke (Anm. 15). Volker Mertens, »Rezeption der französischen Adelsliteratur«, in: Ursula Liebertz-Grün (Hrsg.), Aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit: Höfische und andere Literatur 750–1320, Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte 1, Reinbek 1988, 135–157.
Sebastian Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe. Das altprovenzalische Partimen, Beihefte zu Poetica 5, München 1969.
Günther Schweikle (Hrsg.), Dichter über Dichter in mittelhochdeutscher Literatur, Deutsche Texte 12, Tübingen 1970.
Walter Haug, Mittelhochdeutsche Klassik, in: Hans-Joachim Simm (Hrsg.), Literarische Klassik, Frankfurt/M. 1988, 230–247.
Ich zitiere den Tristan stets nach: Gottfried von Straßburg, Tristan, hrsg. Karl Marold, dritter Abdruck hrsg. Werner Schröder, Berlin 1969, hier 4619–4818;
Bernd Schirok, Parzivalrezeption im Mittelalter, Erträge der Forschung 174, Darmstadt 1982. Thomas Klein, »Ermittlung, Darstellung und Deutung von Verbreitungstypen in der Handschriftenüberlieferung mittelhochdeutscher Epik«, in: Volker Honemann, Nigel F. Palmer (Hrsg.), Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kollogium 1985, Tübingen 1988, 110–167.
Ich zitiere den Parzival stets nach: Wolfram von Eschenbach, Sechste Ausgabe von Karl Lachmann, Berlin, Leipzig 1926. Aus Raumgründen muß ich auf eine umfangreiche Nennung der Forschungsliteratur verzichten. Den Zugang zur Forschung eröffnet: Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, Sammlung Metzler 36, 6. Aufl., Stuttgart 1991.
Karl Heinz Borck, »Adel, Tugend und Geblüt: Thesen und Beobachtungen zur Vorstellung des Tugendadels in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, in: PBB 100 (Tübingen 1978), 423–457.
Ernst Werner, Pauperes Christi. Studien zu sozialreligiösen Bewegungen im Zeitalter des Reformpapsttums, Leipzig 1956.
Zum Tristan vgl. Anm. 20. Erich Kleinschmidt, »Minnesang als höfisches Zeremonialhandeln (1976)«, in: Barbara Haupt (Hrsg.), Zum mittelalterlichen Literaturbegriff Darmstadt 1985, 57–110.
Horst Wenzel, »Öffentlichkeit und Heimlichkeit in Gottfrieds ›Tristan‹«, ZfdPh. 107 (1988), 335–361.
Ders., »Negation und Doppelung. Poetische Experimentalformen von Individualgeschichte im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg«, in: Thomas Cramer (Hrsg.), Wege in die Neuzeit, München 1988, 229–251.
Wolfgang Mohr, »›Tristan und Isold‹ als Künstlerroman (1959)«.
W.T.H. Jackson, »Der Künstler Tristan in Gottfrieds Dichtung (1962)«.
Beide Aufsätze wieder in, Alois Wolf (Hrsg.), Gottfried von Straßburg, Wege der Forschung 320, Darmstadt 1973, 248–279, 280–304.
Otto Langer, »Der ›Künstlerroman‹ Gottfrieds — Protest bürgerlicher ›Empfindsamkeit‹ gegen höfisches ›Tugendsystem‹?«, Euphorion 68 (1974), 1–41.
Ferdinand Urbanek, »Die drei Minne-Exkurse im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg«, ZfdPh. 98 (1979), 344–371.
Rüdiger Schnell, »Der Frauenexkurs in Gottfrieds Tristan (V. 17858–18114). Ein kritischer Kommentar«, ZfdPh. 103 (1984), 1 –26.
Walter Haug, »Gottfrieds von Straßburg Tristan. Sexueller Sündenfall oder erotische Utopie«, in: Albrecht Schöne (Hrsg.), Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, 11 Bde., Tübingen 1986, I, 41–52.
Christoph Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zuThomasin von Zerklaere, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, Münchener Texte und Untersuchungen 89, München 1988, hier 79–135.
vgl. Ursula Liebertz-Grün, »Das Spiel der Signifikanten in der ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen«, in: Ulrich Ernst, Bernhard Sowinski (Hrsg.), Architectura Poetica. Festschrift für Johannes Rathofer, Köln 1990.
Vgl. z.B. Reinmar MF 165, 37. Dazu Ulrich Müller, »Die Ideologie der Hohen Minne, eine ekklesiogene Kollektivneurose? Überlegungen und Thesen zum Minnesang«, in: U.M. (Hrsg.), Minne ist ein swaerez spil. Neue Untersuchungen zum Minnesang und zur Geschichte der Liebe im Mittelalter, Göppinger Arbeiten zur Germanistik 440, Göppingen 1986, 283–315.
Vgl. z.B. Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden, hrsg. Hans-Friedrich Rosenfeld, Deutsche Texte des Mittelalters 49, Berlin 1957, hier v. 8200.
Urbanek (Anm. 28): dazu Rüdiger Schnell, »Gottfrieds Tristan und die Institution der Ehe«, ZfdPh. 101 (1982), 334–369.
Louise Gnädinger, Hiudan und Petitcreiu. Gestalt und Figur des Hundes in der mittelalterlichen Tristandichtung, Zürich 1971.
Werner Schröder, Das Hündchen Petitcreiu im Tristan Gotfrids von Straßburg, in: Rainer Schönhaar (Hrsg.), Dialog. Literatur und Literaturwissenschaft im Zeichen deutsch-französischer Begegnung. Festgabe für Josef Kunz, Berlin 1973, 32–42.
Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 222, Frankfurt/M. 1977, hier 31–41.
Ursula Liebertz-Grün, »Pluralismus im Mittelalter. Eine polemische Miszelle«, Monatshefte 85 (1993). Der Begriff Mittelalter wird den Zugang zur mittelalterlichen Literatur so lange versperren, bis es gelingt, sich von der Illusion einer einzigen, homogenen und linearen Zeit zu lösen und Zeit als ein Zusammenspiel komplementärer und konträrer Chronologien zu begreifen.
Dazu Jacques LeGoff, »Neue Geschichtswissenschaft«, in: J. L., Roger Chartier, Jacques Revel (Hrsg.), Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt/M. 1990, 11–61, hier 49–50.
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Liebertz-Grün, U. (1993). Klassisches im Mittelalter Pluralität in der volkssprachigen höfischen Literatur. In: Voßkamp, W. (eds) Klassik im Vergleich Normativität und Historizität europäischer Klassiken. Germanistische Symposien. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05558-3_8
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