Zusammenfassung
Als Generation des sich einigenden und vereinigenden Europas werden wir uns mehr und mehr fragen müssen, ob unsere literarhistorischen Schemata, die trotz aller Bemühungen um eine »allgemeine« oder »vergleichende« Literaturwissenschaft immer noch vorwiegend national geprägt sind, nicht allmählich ihrerseits Gegenstand historischer Betrachtungen werden müssen. Literaturgeschichte im Sinne der Bereitstellung eines differenzierten und kritisch reflektierten kulturellen Werteangebots für die heutigen europäischen Gesellschaften jedenfalls muß aus der nationalen Perspektive ausbrechen, will sie nicht die Chance von vorneherein verspielen, bei der Stärkung europäischer Identität mitzuwirken. Der Rückblick auf die Funktionen von Literaturgeschichte, und im besonderen auf die Entstehung einer für die jeweilige nationale Identität aller europäischen Staaten wichtigen klassischen Periode, soll erklären helfen, wie es zur Fixierung der heute — anachronistisch — weiterhin gültigen Epochenschemata und Wertungen gekommen ist. Das Beispiel der spanischen (kastilischen)[1] Klassik mag aufgrund der besonderen Umstände — frühe Entstehung als Epochenkonzept; völlig kontroverse Definition und Bewertung bis ins frühe 20. Jh. — als Vergleichsobjekt in mancherlei Hinsicht interessant sein. [2]
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Anmerkungen
Spanisch wird hier als Synonym von ›kastilisch‹ verwendet. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Vereinheitlichung der Nationalsprache Folge einer keineswegs unumstrittenen zentralistischen Politik im späten 15. und 16. Jh. war. Am Sonderfall des Katalanischen läßt sich ablesen, daß im 19. Jh. eine Rückbesinnung auf die regionalen Sprachen mit der Konstruktion eigener literarhistorischer Schemata erfolgte, siehe Carlos Romero, »Breve historia de las historias de la literatura catalana«, Rassegna iberistica 17 (1983), 3–34.
Die folgenden Ausführungen sind Teilergebnisse einer in Arbeit befindlichen Studie zur Entstehung der Literaturgeschichtsschreibung in Spanien. Aus Platzgründen verzichten wir bewußt auf allzu ausführliche Wiedergabe von Belegstellen und halten die Darstellung synthetisch, um so einen möglichst großen Zeitraum abzudecken und für die vergleichende Betrachtung zugänglich zu machen. An dieser Stelle sei auf einen Aufsatz Hans Ulrich Gumbrechts und Juan-José Sánchez’ hingewiesen (»Geschichte als Trauma — Literaturgeschichte als Kompensation? Ein Versuch, die Geschichte spanischer Literaturgeschichtsschreibung (vornehmlich des 19. Jh.) als Problemgeschichte zu erzählen«, in: H.-U. Gumbrecht, B. Cerquiglini (Hrsg.), Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt/M. 1983, 333–366), der in einer (auf recht wenige Primärquellen gestützten) suggestiven Problemskizze die Besonderheiten der spanischen Literaturgeschichtsschreibung im 19. und 20. Jh. zu erklären versucht. In einigen Punkten überschneiden sich unsere Ergebnisse mit denen dieses Artikels, trotz ganz unterschiedlicher Fragestellungen.
Fritz Schalk, »Das goldene Zeitalter als Epoche«, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 199 (1962), 85–98,
Wido Hempel, »In onor de la Fenice Ibera«. Über die Essequie poetiche di Lope de Vega, Venedig 1636, nebst einer kommentierten Ausgabe der Orazione del cavalier Marino und des Ragguaglio di Parnaso, Frankfurt 1964,
ders., ›Theatergeschichtsschreibung‹ im Siglo de Oro von Agustín de Rojas bis zu Francisco Bances Candamo«, in: Spanische Literatur im goldenen Zeitalter. Fritz Schalk zum 70. Geburtstag, Frankfurt 1973, 117–149,
und François Lopez, »Comment l’Espagne éclairée inventa le siècle d’or«, in: Hommage des hispanistes français à Noël Salomon, Paris 1979, 517–525
Lope de Vega Carpio: Cuestión sobre el honor debido a la poesía, in: Obras escogidas. Poesía y Prosa, Madrid 1946, 921 ff.;
Diego de Saavedra Fajardo: República literaria, hrsg. García de Diego, Madrid 1973.
Cristóbal de Mesa an Barahona de Soto, 1595, zit. nach Schalk 1962, 92. Allgemeiner auf die Wissenschaften und die Kunst bezogen ist folgendes Zitat aus Suárez de Figueroas Varias noticias (1621), fol. 234: »Bien considerado, nunca (hablo quanto a letras) huvo siglo tan feliz como el que gozamos, por el aumento y mejoría que resplandeze en todas facultades.« Romero-Navarro, La preceptiva dramática de Lope de Vega, Madrid 1935, 53. Wir interessieren uns hier lediglich für die Epochenbezeichnung »siglo de oro«, sofern sie auf die Literatur bezogen ist. Daß in politischer Hinsicht das 17. Jh. neidvoll auf das 16. schaut und den Niedergang zur »edad de hierro« beklagt, steht auf einem anderen Blatt. Siehe hierzu Hempel 1964, 151. Anm. 17.
Die relevanten Titel der Sekundärliteratur stellt Hempel (1964, 134, Anm. 33) zusammen, aus neuerer Zeit siehe auch Porqueras-Mayo/Sánchez Escribano (Hrsg.), Preceptiva dramática española del Renacimiento y del Barroco, Madrid. 1972.
Agustín de Rojas Villandrano, Loa alabando la comedia, in: El viaje entretenido (1603), hrsg. Jean Pierre Ressot, Madrid 1972.
wir beziehen uns hier auf Texte und Textteile verschiedener literarischer und gelehrter Gattungen, in denen Traditionslinien in chronologischer Anordnung entworfen werden. Bibliographisch sind einige der wichtigsten Texte erfaßt bei Guillermo Díaz-Plaja: »Esquema historiográfico de la literatura española«, in: Historia general de las literaturas hispánicas, Bd. I, Barcelona 1956, LXIII–LXXV, bzw.
bei Homero Seris, Manual de bibliografía de la literatura española, Madrid 1948.
García Matamoros, Apologia pro adserenda hispanorum eruditione, Madrid 1553, hrsg. und übers. P. López de Toro, Madrid 1943.
Nicolás Antonio, Bibliotheca hispana, Rom 1672 (später unter dem Titel Bibliotheca hispana nova), und Bibliotheca hispana vetus, Rom 1696.
José Cadalso, Cartas marruecas, hrsg. Juan Tamayo y Rubio, Madrid 1969;
Der Hinweis auf Blas Antonio Nasarre, Comedias y entremeses de Miguel de Cervantes Saavedra con una disertación sobre las comedias de España, Madrid 1749 und Agustín Montiano y Luyando, Discurso sobre las Tragédias Españolas, Madrid 1750, 2. discurso 1753, mag hier genügen. In der Neuausgabe 1778 der aristotelischen Nueva idea de la tragedia antigua, o ilustración al libro de la poética de Aristóteles, von González de Salas wird im Vorwort die Zeit von Karl V. bis Philipp II. als »siglo de oro« des spanischen Theaters bezeichnet.
Durch Diezes Übersetzung 1769 und seine zahlreichen Ergänzungen wurde das kleine Büchlein in Deutschland und vor allem in Göttingen bekannt und konnte so, gemeinsam mit anderen Werken wie etwa Juan Andrés’ Literaturgeschichte, Einfluß auf Bouterwek und indirekt die Gebrüder Schlegel nehmen. Weiteres Beispiel für den Bereich der Poesie: »En el siglo decimosexto la majestad de la nación española ocupó toda la tierra. (…) Para muestra de lenguaje español de esta edad verdaderamente dorada basten las obras de los autores ya mencionados con todos los demás que ella produjo con abundancia y felicidad. Estos son los ejemplares que se han de leer de día y de noche.« Benito de San Pedro, Arte del romance castellano, Valencia 1769;
Zur Rolle der Presse in diesem Zusammenhang und zur Feststellung, es habe kaum mehr eine Zwischenposition gegeben, siehe Vf.: »La difusión de las luces europeas en España: la función de Francia en algunos periódicos españoles del siglo XVIII«, in: Siegfried Jüttner (Hrsg.), Spanien und Europa im Zeichen der Aufklärung, Frankfurt/M. 1991, S. 13–31;
sowie die französische Kurzfassung: »Diffusion des lumières européennes en Espagne: Le rôle de la France dans quelques périodiques du XVIIIe siècle«, Actes du Septième congrès international des Lumières (Studies on Voltaire 1989), 641–644.
Tomás de Erauso y Zavaleta, Discurso crítico sobre el origen, calidad, y estado presente de las comedias de España, Madrid 1750 (pseud. Ignacio de Loyola Oyánguren). Daß Erausos Plädoyer gegen Blas Nasarres Kritik an der comedia und für die dichterische Freiheit noch keine romantische Neuordnung der ästhetischen Kriterien und Urteile ist, läßt sich u. a. daran erkennen, daß er die comedia ausdrücklich als »neue« Kunstform definiert und nicht etwa als Folge oder gar Überbleibsel eines romantisch-mittelalterlichen Geistes.
Außer Acht lassen müssen wir hier die wichtige Rolle Capmanys bei der Entwicklung eines »romantischen« Nationenbegriffs. Capmany ist zurecht von Hans Juretschke als »Herder Spaniens« (»La contestación de Capmany a Cadalso y su discurso de ingreso en la Academia de la Historia«, Revista de la Universidad de Madrid, XVIII (1969), 203–221) bezeichnet worden, denn bei seiner Betrachtung der historischen (künstlerischen) Zeugnisse der spanischen Nation stilisiert er die Nation als historisches Subjekt und löst so den Begriff aus einer rein physischgeographischen Definition.
Estéban Arteaga, Rivoluzioni del teatro musicale italiano, Bologna 1783, II, S. 120, relativiert in genau diesem Sinne die ästhetischen Kriterien, die zur negativen Beurteilung des spanischen Dramas führen konnten.
Ansätze zu solch einer Einflußstudie bringt Franco Mergalli, »L’Italia mediatrice fra il teatro spagnolo e la Germania del ’700«, Arcadia 13 (1978), 242–254.
Für eine genauere Analyse und einen sehr aufschlußreichen Vergleich zwischen Bouterwek und den Gebrüdern Schlegel verweisen wir auf den Artikel von Ludwig Schrader, »Bouterweks Urteile. Zur Literaturgeschichtsschreibung zwischen Rationalismus und Romantik«, in: Manfred Tietz (Hrsg.), Das Spanieninteresse im deutschen Sprachraum: Beiträge zur Geschichte der Hispanistik vor 1900, Tübingen 1989, S. 60–78. Auch bei der Behandlung der italienischen Literatur ist Bouterwek de facto nicht sehr weit von den Gebrüdern Schlegel entfernt — trotz aller persönlichen
Zur frühen Rezeption der deutschen Romantik in Spanien siehe Hans Juretschke, »Die Deutung und Darstellung der deutschen Romantik durch Böhl in Spanien«, Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, Ser. 1, Bd. XII, 1956;
Camille Pitollet, La querelle calderonienne, Paris 1907 sowie Gumbrecht 1983.
siehe hierzu die differenzierte Analyse von Rinaldo Froldi, »Il Discurso… di José Marchena, Spicilegio Moderno, Pisa 1 (1972), 45–72. Marchena folgt allerdings Quintana nur in der politischen Einschätzung des Mittelalters, in der Literatur hält er am frühen klassizistischen »siglo de oro« fest.
Alcalá Galiano etwa fordert eine zukünftige spanische Literatur, die sich an der Freiheit des englischen Stils inspiriert, und die nicht imitiert. Diese neue Literatur müsse »national and natural« sein«, zit. nach Vicente Llorens, Liberales y románticos. Una emigración española en Inglaterra (1823–1834), Madrid 21975, 382.
ganz ähnlich übrigens auch Blanco White: »En medio de la guerra encarnizada que mantienen en el día los dos campos literarios opuestos, creo que sobre este punto, así como sobre otros muchos, la verdad está en un justo medio« in: Obras literarias Vol. 5, Paris 1830, 370f.
Über Angel Anaya ist so gut wie nichts bekannt. Selbst die einschlägigen bibliographischen Werke wie Palau y Dulcet kennen nur seine Literaturgeschichte: An Essay on Spanish literature containing its History, London 1818. Folgende weitere Werke sind uns bekannt: El teatro español, o colección de dramas escogidos de Lope de Vega, Calderón de la Barca e.a., 4 Bde., London 1817–21;
In San Isidro wurde der erste Lehrstuhl für Literaturgeschichte geschaffen, und zu Beginn des Jahrhunderts übernahm man Juan Andrés Literaturgeschichte als erstes offizielles Lehrbuch. Siehe hierzu Simón Díaz, »La Biblioteca, el Archivo y la Cátedra de Historia literaria de los Estudios de San Isidro de Madrid (1767–1820)«, Revista Bibliográfica y Documental I (1947), 395–423.
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Baasner, F. (1993). Die umstrittene Klassik. Das Siglo de oro in der spanischen Literaturgeschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Voßkamp, W. (eds) Klassik im Vergleich Normativität und Historizität europäischer Klassiken. Germanistische Symposien. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05558-3_14
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