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Nachkriegshumanismus

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Faust-Handbuch

Zusammenfassung

Die Kulturgeschichte des Faust-Stoffes und die Rezeption von Goethes Faust sind in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg untrennbar verknüpft mit Reflexionen über den Nationalsozialismus und mit der Hoffnung auf geistig-moralische Erneuerung im Zeichen eines Goethe zugeschriebenen Humanitätsideals. Goethes Werk wird in Festreden und kulturphilosophischen Essays zur Inkorporation eines humanen Deutschtums stilisiert, das im Nationalsozialismus pervertiert worden sei und auf das man sich wieder besinnen müsse (Mandelkow 1980–89, 2, 135–164). Damit avancieren Goethe und die Weimarer Klassik nach 1945 zum »vornehmlichen Vehikel der Wiederherstellung des beschädigten Selbstbewußseins [sic] der Deutschen« (ebd., 1, 10), also zur wichtigsten Projektionsfläche für zahlreiche Versuche der Neubegründung von kultureller Identität im Nachkriegsdeutschland. Der Historiker Friedrich Meinecke wünscht sich in seiner viel gelesenen Schrift Die deutsche Katastrophe (1946) beispielsweise die Einrichtung von »Goethegemeinden« in »jeder deutschen Stadt und größeren Ortschaft«, die sich immer sonntags zu einer »Feierstunde« treffen sollten (Meinecke 1946, 174 f.). Auch der rasche Wiederaufbau des kriegszerstörten Frankfurter Goethe-Hauses ist im Zusammenhang dieser Goethe-Renaissance und deren nationalkultureller Dimension zu sehen (Mandelkow 1980–89, 2, 143 f.). Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei vor allem auf Goethes Biographie, die man zur »Präsentation eines vorbildlichen Lebens« (Nutz 1983, 460) stilisiert, etwa in Thomas Manns Vortrag Goethe und die Demokratie von 1949 (Mann GKFA, 19.1, 613 f.). Das Leben Goethes wird zum Exempel eines gelebten Humanismus deklariert, der auf der Idee eines harmonischen Ausgleichs von Gegensätzen innerhalb der Natur des Menschen basiere: Offensichtlich versucht man mittels solcher Humanismuskonzepte, die ›natürliche‹ Verfasstheit des Menschen zwar anzuerkennen, aber zugleich eine Auflösung aller Moral in deterministischen Biologismus zu vermeiden. Die Goethe zugeschriebenen Humanismusvorstellungen richten sich damit einerseits gegen eine biologistisch-deterministische Rassentheorie, besitzen andererseits aber oft auch eine generelle kulturkritische Dimension, da sie im Namen des Humanismus Einspruch gegen den einseitigen Rationalismus einer als technisiert empfundenen Moderne erheben.

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Löwe, M., Streim, G. (2018). Nachkriegshumanismus. In: Rohde, C., Valk, T., Mayer, M. (eds) Faust-Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05363-3_61

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