Zusammenfassung
»Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist«, sagt Goethes Faust, »[w]ill ich in meinem innern Selbst genießen« (Goethe: Faust I, V. 1770 f.). Prägnanter lässt sich der totalitäre Anspruch eines Individuums nicht ausdrücken. Dass es »genießen« und nicht etwa »erleiden« heißt, zeigt, dass dabei das Lustprinzip herrscht. Man kann es als eine Umkehr des Märtyrertums, genauer: der Christus-Figur, betrachten. Hier will jemand als Einzelner nicht das Leiden, sondern den Genuss der Welt auf sich nehmen. Es ist ein egoistischer Hedonismus, der sein Ego aufs Äußerste aufbläht. So zeichnet Goethe die Faust-Figur als pathetisch selbstherrliches Individuum, das seinen Willen und seine Lust absolut setzt. Entstehungsgeschichtlich hängt das mit dem programmatischen Individualismus des Sturm und Drang und der Genie-Zeit zusammen. Der Titelheld des ersten Tragödienteils verkörpert diese Intention auf ambivalente Weise: mitreißend in seinem Antitraditionalismus und natürlichen Authentizitätsverlangen, unheilvoll in seinem unbedingten Willen und Erlebnishunger.
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Matuschek, S. (2018). Individualitätsmythen der Moderne: Faust im Kontext. In: Rohde, C., Valk, T., Mayer, M. (eds) Faust-Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05363-3_2
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