Zusammenfassung
1827 veröffentlichte Victor Hugo eine geschichtsphilosophische Rechtfertigung seines eigenen Schaffens, das berühmte Vorwort zum Cromwell, in dem die dramatische Gattung zur Grundform modernen Dichtens erklärt wird (Hugo 1897, bes. 231–236). Nur die dramatische Form, als vielstimmige Summe vorausgegangener dichterischer Ausdrucksmöglichkeiten, als spannungsvolle Synthese des Sublimen und des Grotesken, vermöge, so Hugo, die moderne Welt in ihrer Wahrheit und Widersprüchlichkeit zur Darstellung zu bringen. Vier Jahre später wurde Goethes Faust-Drama abgeschlossen und man könnte leicht den Eindruck gewinnen, hier verwirkliche sich Hugos emphatisch vorgetragene These. Kaum weniger emphatisch hat nämlich die neuere Forschung die Modernität vor allem des zweiten Teils des Faust-Dramas betont, mit dem Ergebnis, dass eine gediegene Interpretation von Faust II, die den Begriff der Moderne nicht in Anschlag brächte, heute kaum denkbar ist. Dieses Faktum ist jedoch eher als Widerlegung denn als Bestätigung von Hugos These zu betrachten. Die dramatische Gat-tung wollte Hugo als geeignete Form zur Erfassung moderner Wirklichkeit ausweisen und darin hat er sich, wie der Romanist Hugo Friedrich 1939 feststellte, massiv getäuscht: Nicht das Drama, sondern der Roman sei diejenige Gattung, in der die bewegte Wirklichkeit der Moderne ihre gültige Darstellung finde (Friedrich 1980, 9). Wer wird dem widersprechen? Solch prägende Phänomene der Moderne wie Industrialisierung, Entstehung der Großstädte, Vorherrschaft des Kapitals, Entstehung des Proletariats, Zerfall traditioneller Werte und Verwissenschaftlichung des Weltbildes sind schließlich das Material des Romans, nicht des Dramas. Von den großen Romanciers von Balzac bis hin zu Proust, Joyce, Kafka und Musil wurde die maßgebliche literarische Artikulation modernen Bewusstseins geleistet. Vor diesem Hintergrund hebt sich aber der besondere Charakter der auf Faust bezogenen Modernitätsthese ab. Sie zielt nicht auf das Allgemeine, sondern auf das Besondere. Fausts Modernität, um den Titel eines einschlägigen Forschungsbeitrags zu zitieren (Gaier 2000), ist kein Merkmal, welches das Werk mit anderen gattungsmäßig verwandten Werken teilt, sondern Goethes durchaus individuelle künstlerische Deutung und Bewertung des geschichtlichen Prozesses. Anliegen von Goethes Faust sei die Darstellung der Moderne selbst, das Drama bilde in seiner Formdynamik die Dynamik der Moderne ab – so lautet der derzeitige Forschungskonsens.
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Wellbery, D.E. (2018). Moderne. In: Rohde, C., Valk, T., Mayer, M. (eds) Faust-Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05363-3_26
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