Zusammenfassung
Der Aufstieg der Langeweile zum metaphysischen Königsweg war keineswegs selbstverständlich. Es gab andere, privilegierter scheinende Kandidaten, die mit ihr um den Status einer philosophischen Schlüsselstimmung konkurrieren konnten: die Melancholie etwa, aber auch Angst und Verzweiflung. Der Weg der Langeweile zu jenem Platz, den sie im 20. Jahrhundert bei Heidegger oder Cioran einnimmt, ist nicht reich an jähen Wendungen; es ist überwiegend ein Schleichweg. Entscheidend ist oft eher, woran es vorübergeht, als wohin es vorangeht. Vor allem ist nicht durchgehend sicher, wer auf diesem Weg was vorantreibt: die Langeweile ihre metaphysische Explikation oder die Metaphysik eine Explikation der Langeweile. Wichtige Umschlagpunkte bzw. Wendungen markieren solche geistesgeschichtlichen Parallelphänomene wie die Neubewertung der Gefühle und die Ausbildung einer Anthropologie als philosophischer Disziplin im 18. Jahrhundert. Mit letzterem Faktum ist die Langeweile als theoriewürdiges Thema etabliert. Mit ersterem ist jener Umschlag bezeichnet, worin sich das Irritierende und Erklärungsbedürftige zu einem Explanans emanzipiert und sogar intellektuellen Elitestatus verheißen kann. Durch die Formel „Langeweile zwischen Kant und Schopenhauer“ soll zunächst eine grobe Epochenmarkierung genannt sein, zudem aber auch die vielleicht folgenreichsten philosophischen Langeweilesystematiker aus besagter Umbruchsituation.
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Anmerkungen
Vgl. René Weiland (Hrsg.), Philosophische Anthropologie der Moderne, Weinheim 1995, Vorbemerkung, 9.
Vgl. Ursula Franke, Ein Komplement der Vernunft. Zur Bestimmung des Gefühls im 18. Jahrhundert, in: Ingrid Craemer-Ruegenberg (Hrsg.), Pathos, Affekt, Gefühl, Freiburg-München 1981, 131–148, hier bes.: 144ff
Vgl. Anthony Kenny, Action, Emotion and Will, London 1963. Den Kontakt zur existentialhermeneutischen Tradition sucht Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt/M. 1979, 200ff.
Vgl. Alfred Bellebaum. Langeweile, Überdruß und Lebenssinn. Eine geistesgeschichtliche und kultursoziologische Untersuchung, Opladen 1990, 15ff.
Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke, hrsg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, 31 Bände, Gütersloh 1985 (zit. als „KGW“).
Vgl. Ludwig Völker, Langeweile. Untersuchungen zur Vorgeschichte eines literarischen Motivs, München 1975, 125.
Elena Pulcini, Das Individuum ohne Leidenschaften. Moderner Individualismus und Verlust des sozialen Bandes, deutsch von Eva Birkenstock, Berlin 2004, 92.
Michel de Montaigne, Essais (Versuche) nebst des Verfassers Leben nach der Ausgabe von Pierre Coste ins Deutsche übersetzt von Johann Daniel Tietz, drei Bände, Zürich 1992 (zit. als „ME“).
Claude Adrien Helvétius, Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung, hrsg. und übersetzt von Günther Mensching, Frankfurt/M. 1972, 365.
Vgl. Gernot Böhme, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Frankfurt/M. 1985, 277.
Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung, Paderborn u.a. 1985,232.
Christopher Schwarz, Langeweile und Identität. Eine Studie zur Entstehung und Krise des romantischen Selbstgefühls, Heidelberg 1993, 23.
Immanuel Kant, Werke, Akademie-Textausgabe, Berlin 1907–1917 (Reprint Berlin 1968), VII: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (zit. als „ApH“).
Friedrich Nietzsche, Werke, hrsg. von Karl Schlechta, drei Bände, München 1960, II, 191.
Vgl. John Locke, Gedanken über Erziehung, Langensalza 1910, 300f.
Karl Philipp Moritz, Gnothi sauton oder Magazin von Erfahrungsseelenkunde als ein Lehrbuch für Gelehrte und Ungelehrte, zwei Bände, Berlin 1783–1793 (Reprint Lmdau/Br. 1978), IX, 1, 16f
Johann Gottlieb Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Neudruck aufgrund der 2., von Fritz Medicus hrsg. Ausgabe 1922, Hamburg 1956, 78.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg 1988, 139f.
Zit. nach: Karl Konrad Polheim, Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik, München-Paderborn-Wien 1966, 316.
Novalis, Schriften, hrsg. von Richard Samuel, fünf Bände, Stuttgart 1960–1988, IV, 435.
Giacomo Leopardi, Ich bin ein Seher. Gedichte italienisch - deutsch, Kleine moralische Werke, Zibaldone: Gedanken zur Literatur, aus dem Italienischen hrsg. von Sigrid Siemund, Leipzig 1991, 316.
Karl Rosenkranz, Der Fortschritt in der Einförmigkeit unsrer Civilisation, in: Die Gegenwart 2 (1872), 180–182.
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Große, J. (2008). Anthropologie der Langeweile zwischen Kant und Schopenhauer. In: Philosophie der Langeweile. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05231-5_3
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