Zusammenfassung
In den Geistes- und Sozialwissenschaften hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren übereinstimmend die Auffassung durchgesetzt, dass das Erzählen von Geschichten eine Konstante menschlicher Welterfahrung ist: »Oral narrative, or what we call storytelling in everyday speech, is as much around us as the air we breathe, although we often take its casual forms so much for granted that we are scarcely aware of them.«1 Selbst wenn man nicht so weit geht, den menschlichen Hang zum Erzählen mit Sugiyama (2005) aus evolutionsgeschichtlicher Sicht als Teil eines Adaptionsprozesses zu deuten,2 wird doch in der interdisziplinären Erzählforschung generell die Auffassung geteilt, dass sich die Omnipräsenz des Erzählens im Alltag als ein Indiz dafür werten lässt, dass Erzählungen nicht nur für die erzählenden Individuen von Bedeutung sind, sondern auch wichtige soziokulturelle Funktionen erfüllen. Die kulturwissenschaftliche Forschung hat insbesondere die Rolle von nichtfiktionalen und fiktionalen Geschichten für das kollektive Gedächtnis und die Formation personaler und kollektiver Identitäten herausgestellt. Um letztere geht es in diesem Beitrag, der Formen und Funktionen von Kollektiverzählungen untersucht.
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Kommentierte Auswahlbibliographie
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1997. — Assmanns Studie ist in der deutschsprachigen Forschung nach wie vor ein Standardwerk zum Zusammenhang von Identität und Erzählung. Assmann entwickelt hier in Auseinandersetzung mit Halbwachs u.a. eine Theorie des ›kulturellen Gedächtnissses‹, die — wie auch seine kulturgeschichtliche These vom Übergang von ritueller zu textueller Kohärenz — weit über seine eigene Disziplin (Ägyptologie) hinaus Beachtung gefunden und der transdisziplinären Gedächtnisforschung wichtige Impulse gegeben hat.
Erll, Astrid: Gedächtnisromane. Literatur über den ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren, Trier 2003. — Erll beschreibt auf der Grundlage der Forschung zum kulturellen Gedächtnis die Rolle fiktionaler Kollektiverzählungen aus literartuewissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher und gedächtnistheoretischer Persepktive. Erlls Begriff der ›kollektiven Texte‹ beschreibt Rezeptionsphänomene, die für den Zusammenhang von Erinnerung und kultureller Identität von zentraler Bedeutung sind. Literatur wird dabei als eine Form der medialen Konstruktion und Vermittlung von kollektiv akzeptierten Interpretationen der Vergangenheit aufgefasst.
Gostmann, Peter/Schatilow, Lars: Europa unterwegs, Münster 2008. — Diese Studie, die am Beispiel des Kulturtourismus die Suche nach einer europäischen Identität untersucht, illustriert exemplarisch den Stellenwert von Konzepten der Erzähl- und Gedächtnisforschung in der soziologischen Theoriebildung. Kollektive Identität wird als narrative Konstruktion aufgefasst, die dabei entstehenden (nichtfiktionalen) Kollektiverzählungen tragen zum kulturellen Gedächtnis (im Sinne von Jan Assmann) bei.
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Sommer, R. (2009). Kollektiverzählungen. Definition, Fallbeispiele und Erklärungsansätze. In: Klein, C., Martínez, M. (eds) Wirklichkeitserzählungen. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05228-5_11
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05228-5_11
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-02250-9
Online ISBN: 978-3-476-05228-5
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)