Zusammenfassung
Am 1. August 1874 hielt Cosima Wagner, spürbar angewidert, in ihrem Tagebuch lakonisch ein »Gespräch über Herrn Brahms« fest und »dessen schädlichen muckerischen Einfluss auf den gebildeten Bürgerstand« (Wagner, Tagebücher Bd. 1, 841). Mit dieser Boshaftigkeit klassifizierte sie, den Abstand zu Richard Wagners Existenzform auslotend, Johannes Brahms als bürgerlichen Komponisten wie als Komponisten des Bürgertums gleichermaßen, mit, so ihr Vorwurf, verheerenden Auswirkungen auf das nicht allein musikalische Selbstbewusstsein eben dieses ›Standes‹. Tatsächlich entspricht diese Einschätzung, ganz unabhängig von ihrer negativen Wertung, einem im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Wahrnehmungsmuster. Mit dessen Hilfe konnte Brahms in die Mechanismen der sich formierenden bürgerlichen Musikkultur erstaunlich bruchlos eingepasst werden. Der Komponist firmierte schließlich sogar als repräsentative Galionsfigur eines Bürgertums, das sich in statutarisch organisierten Musikvereinen zugleich abbilden und feiern konnte, das sich dazu monumentale Konzertsaal-Denkmäler von nicht selten sakraler Feierlichkeit errichtete und für das die Musik, wie Fontane es in den Lieddarbietungen von Frau Jenny Treibel 1892 ironisch beschrieb, zur nicht immer von lauterer Aufrichtigkeit geprägten Gegenwelt eines von Geschäfts- und Erfolgsstreben geprägten Alltags werden konnte.
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Literatur
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Lütteken, L. (2009). Brahms — eine bürgerliche Biographie?. In: Sandberger, W. (eds) Brahms Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05220-9_2
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