Zusammenfassung
Heftige Diskussionen drehen sich in unserer Zeit um das ‚Schicksal‘ der Erde und des Planeten, den man glaubt ‚retten‘ zu müssen. Löwiths Philosophie dagegen wirft die Frage auf, ob wir seit dem Anbrechen der Neuzeit einem geradezu ‚weltlosen‘ Leben überantwortet sind. Diese Frage hat besonders seit der Entwicklung atomarer Waffen und durch die ökologische Destruktivität eines um Nachhaltigkeit unbekümmerten Wirtschaftens, durch einen hochgradig beschleunigten Finanzkapitalismus sowie durch die virtuellen Medien noch an Bedeutung gewonnen. Deshalb kann es sich lohnen, sich mit der Philosophie Löwiths im Hinblick auf ihre Aktualität zu befassen, ohne ihr auf anachronistische Art und Weise umstandslos Antworten auf gegenwärtig verschärfte Fragen abzuverlangen, die sich erst abzuzeichnen begannen, als Löwith entscheidend durch die Erfahrung zweier Weltkriege, die Herrschaft der Nationalsozialisten und seine durch sie erzwungene Emigration geprägt wurde. Das Buch geht der Frage nach, welchen Begriff sich Löwith vor diesem Hintergrund von unserer „verzeitlichten Welt“ gemacht hat.
Jetzt, da die Welt so ist, als ob die Kraft,
die die Dinge verbunden und zusammengehalten hat
‒ die Häuser, die Natur, die menschliche Seele,
die Sterne, die Rechtsordnungen ‒,
nicht mehr wirksam wäre,
kehre ich zurück zu den Büchern
(Sándor Márai, Zwischen Himmel und Erde. Betrachtungen, 151)
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Vgl. aber Löwiths vermutlich Anfang der 1960er Jahre geschriebene kurze Intervention „Atomenergie und menschliche Verantwortung“ (1984).
- 2.
Vgl. die Zusammenfassung in S6, 535 ff. Löwiths Schriften werden in der Regel nach der Ausgabe der Sämtlichen Schriften (Stuttgart 1981‒1986) mit der Sigle S, Bandangabe und dem Jahr des ersten Erscheinens des jeweiligen Textes zitiert, da es sich vielfach als außerordentlich aufschlussreich erweist, auf welches Jahr der Vorkriegszeit, der Emigration bzw. des Exils und des Kalten Krieges eine zitierte Äußerung jeweils zurückgeht. Die verwandten Siglen finden sich am Ende dieses Bandes verzeichnet.
- 3.
Vgl. die Berichte von Schwentker (1994) und Otabe (2011) sowie die Ortsbestimmung seines Denkens, die Löwith in seiner Antrittsrede an der Tohoku Imperial University Sendai selbst vorgenommen hat: „Die Idee von Europa in der deutschen Philosophie der Geschichte“; unveröffentlichtes Typoskript, das mir freundlicherweise Hans Rainer Sepp , Prag, zur Verfügung gestellt hat.
- 4.
Vgl. Details bei Rottmann 2016.
- 5.
Es ist ein Desiderat, Löwiths Antwort auf die Herausforderung geschichtlicher Gewalt mit den Schriften von Anders (man denke nur an Die Antiquiertheit des Menschen [1956]), von Arendt (besonders The Origins of Totalitarianism [1951]), von Adorno und Horkheimer mit ihrer Dialektik der Aufklärung (1944) sowie mit Heideggers Technik-Kritik zu vergleichen. Erst in einem vergleichenden Verfahren wäre abzuschätzen, wo sie ungenügend erscheint und eigene Stärken hat. Zu Anders vgl. die Hinweise in sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik 13 (2018), zu Heidegger jetzt den Briefwechsel 1919‒1973 mit Löwith (2016). Im Metzler-Verlag, wo früher schon eine hilfreiche Einführung in Löwiths Denken erschienen ist (Ries 1992), ist eine Übersetzung von Enrico Donnagios Una sobria inquietudine. Karl Löwith e la filosofia, eine Ausgabe ausgewählter Briefe sowie die Publikation der Dissertation zu Nietzsche in Vorbereitung.
- 6.
Vgl. Koselleck 1989a, XV.
- 7.
Vgl. Kap. III in diesem Band.
- 8.
Auch der Vergleich mit Alfred Schütz’ Begriff der sozialen Welt sowie mit Emmanuel Levinas’ früher Schrift Die Zeit und der Andere bleibt ein wichtiges Desiderat. Vgl. Schütz 1974; Levinas 1984. Nicht zuletzt deshalb, weil bei beiden Autoren die nicht-menschliche natürliche Welt marginalisiert erscheint.
- 9.
- 10.
Bergson 1912, 16.
- 11.
Ricœur 1985.
- 12.
Koselleck 1989b, 262 f.
- 13.
- 14.
In jüngster Zeit zeichnen sich in der philosophischen Literatur vielfältige Rückbesinnungen auf den Zusammenhang von páthos (Widerfahrnis), Negativität und praktischen Energien ab; dabei ist ein (Kierkegaardscher ) Unterton der Verzweiflung allerdings nur selten zu vernehmen (vgl. bspw. Marx 2010; Vf./Hetzel/Sepp 2011; Angehrn/Küchenhoff 2014; Vf. 2019a).
- 15.
Davon sind allerdings Autoren v. a. amerikanischer Provenienz (allen voran Stephen Pinker ) nicht überzeugt, deren unbedingter, mit statistischen Argumenten vorgetragener Optimismus (was den Rückgang von Kriegen und Opferzahlen anbetrifft) allerdings um einen allzu hohen Preis erkauft ist: in ihm spielen Begriffe wie páthos, Negativität und Verzweifelung praktisch keine Rolle. Insofern handelt es sich zweifellos um einen ‚blendenden‘ Optimismus, welcher der Kritik nicht standhalten kann (vgl. Vf. 2019b).
- 16.
Jaspers 1955, 224.
- 17.
In Anbetracht der Tatsache, dass sich die vier Grundkräfte der Physik (die Gravitation, der Elektromagnetismus, die schwache Wechselwirkung und die starke Wechselwirkung) bislang nicht in sie vereinheitlichenden Theorien miteinander in Verbindung bringen lassen und dass man sog. Dunkle Materie bislang nur postulieren kann, ohne dass absehbar wäre, wie sie nachzuweisen wäre. Dabei lässt sich die Dynamik des Universums offenbar gar nicht erklären, ohne eine solche Materie in Rechnung zu stellen.
- 18.
Zweig 2013.
- 19.
Vgl. Vf. 2008.
- 20.
- 21.
Als protestantisch Getaufter lebte Löwith wie auch seine Herkunftsfamilie die Assimilation, wie er selbst feststellte; vgl. LD, 10, 65. Doch wurde ihm der Gegensatz „deutsch“ bzw. „arisch“ vs. „jüdisch“ dann wie so vielen anderen auch von den Nazis derart aufgezwungen, dass er schließlich seinerseits mit ihm operierte, ohne jeweils Anführungszeichen zu setzen.
- 22.
Levinas 1992, 173 ff.
- 23.
Etwa Karl Jaspers , der in diesem Zusammenhang von „metaphysischer Schuld“ und „Scham“ spricht; Jaspers 21946, 11 f., 48 f.
- 24.
- 25.
Wobei Kant seinerzeit den politischen Enthusiasmus als Indiz nahm, während uns heute eher tiefstes Erschrecken als Leitfaden dient (vgl. Kant, WA XI, 357, 361).
Literatur
Adorno, Theodor, W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. New York 1944.
Anders, Günter: Die Antiquiertheit des Menschen. München 1956.
Angehrn, Emil/Küchenhoff, Joachim (Hg.): Die Arbeit des Negativen. Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem. Weilerswist 2014.
Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism. New York 1951.
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1951/5]. München/Zürich 31993.
Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München/Zürich 22006.
Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung. Jena 1912.
Bloch, Marc/Braudel, Fernand/Febvre, Lucien et al.: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse (Hg. C. Honegger). Frankfurt a. M. 1977.
Chestov, Leon: Kierkegaard et la philosophie existentielle. Paris 1936.
Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Berlin 1978.
Glucksmann, André: Die Meisterdenker. Frankfurt a. M./Berlin 1989.
Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt ‒ Endlichkeit ‒ Einsamkeit. Gesamtausgabe II. Abteilung: Vorlesungen 1923‒1944, Bd. 29/30. Frankfurt a. M. 21992.
Heidegger, Martin/Löwith, Karl: Briefwechsel 1919‒1973. Freiburg i. Br./München 2016.
Jaspers, Karl: Die Schuldfrage. Ein Beitrag zur deutschen Frage. Zürich 21946.
Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Frankfurt a. M./Hamburg 1955.
Kant, Immanuel: Der Streit der Fakultäten. In: Werkausgabe, Bd. XI (Hg. Wilhelm Weischedel). Frankfurt a. M. 1977, 261‒393 (= WA).
Koselleck, Reinhart: Vorwort. In: Löwith, Karl: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht [1940]. Frankfurt a. M. 1989a, IX‒XV.
Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989b.
Levinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere [1946/47], Hamburg 1984.
Levinas, Emmanuel: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Frankfurt a. M. 1992.
Liebsch, Burkhard: Für eine Kultur der Gastlichkeit. Freiburg i. Br./München 2008.
Liebsch, Burkhard/Hetzel, Andreas/Sepp, Hans-Rainer (Hg.): Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium. Sonderband Nr. 32 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie. Berlin 2011.
Liebsch, Burkhard: Blendender Optimismus. Zum Versiegen radikaler Kulturkritik. In: Information Philosophie 1 (2019a), 74‒81.
Liebsch, Burkhard: Religiöse Lebensformen und deren KritikerInnen in der Kritik. In: Eberlein, Katharina/Schotte, Dietrich (Hg.): Gelingen und Misslingen religiöser Praxis. Münster 2019b, i. E.
Löwith, Karl: Atomenergie und menschliche Verantwortung. In: Neue Rundschau 95 (1984), Heft 1/2, 54‒59.
Löwith, Karl: Die Idee von Europa in der deutschen Philosophie der Geschichte; unveröffentlichtes Typoskript.
Márai, Sandor: Zwischen Himmel und Erde. Betrachtungen [1942]. München 2002.
Marx, Bernhard (Hg.): Widerfahrnis und Erkenntnis. Zur Wahrheit menschlicher Erfahrung. Leipzig 2010.
Merleau-Ponty, Maurice: Die Abenteuer der Dialektik [1955], Frankfurt a. M. 1974.
Middell, Matthias/Sammler, Steffen (Hg.): Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der ANNALES in ihren Texten 1929‒1992. Leipzig 1994.
Otabe, Tanehisa: Karl Löwith und das japanische Denken, das in zwei Stockwerken lebt. In: JTLA (Journal of the Faculty of Letters, The University of Tokyo, Aesthetics) 36 (2011), 67 ff.
Plessner, Helmuth: Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht. In: Ders.: Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1979, 276‒363.
Reif, Adelbert (Hg.): Gespräche mit Hannah Arendt. München 1976.
Ricœur, Paul: The Contribution of French Historiography to the Theory of History. Oxford 1980.
Ricœur, Paul: Zufall und Vernunft in der Geschichte. Tübingen 1985.
Ries, Wiebrecht: Karl Löwith. Stuttgart 1992.
Rottmann, Mike: Reestablishing Philosophy in a Destroyed Country: Karl Löwith’s Return to Germany. In: Journal of the History of Ideas blog; https://jhiblog.org/2016/03/02 (01.08.2019).
sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik 13 (2018).
Schell, Jonathan: Das Schicksal der Erde. München 51982.
Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt [1932]. Frankfurt a. M. 1974.
Schwentker, Wolfgang: Karl Löwith und Japan. In: Archiv für Kulturgeschichte 76, Heft 2 (1994), 415‒450.
Zweig, Stefan: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers [1942]. Köln 2013.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
Copyright information
© 2020 Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Liebsch, B. (2020). Einleitung. In: Verzeitlichte Welt. Abhandlungen zur Philosophie. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05131-8_1
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05131-8_1
Published:
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-05130-1
Online ISBN: 978-3-476-05131-8
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)