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„Der Körper ist der kleine utopische Kern, der Mittelpunkt der Welt“

Von anderen Räumen und Körpern bei Michel Foucault und Roland Barthes

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Macht - Knoten - Fleisch

Part of the book series: Abhandlungen zur Philosophie ((ABPHIL))

Zusammenfassung

Wer an „Körper“ bei Foucault denkt, denkt an gepeinigte, disziplinierte, reden gemachte, kurz: durch und durch fremdkonstituierte Körpermaschinen. Für die Idee irreduzibler Eigenleiblichkeit, für einen Leib, der Nullpunkt der Erfahrung ist, als Zwischenreich die Tür zum anderen öffnet, o.Ä. bleibt da wenig Raum. Nur an einer Stelle blitzt eine Idee von „Leiblichkeit“ auch bei Foucault auf, die sich auf verwirrende Weise vom sonstigen Werk abhebt: im kleinen Radiovortrag „Le corps utopique“ von 1966. Dieser ist in direkter Nachbarschaft und zeitlicher Nähe zum berühmten Vortrag „Les hétérotopies“ entstanden, ohne freilich, dass Foucault je beide Texte aufeinander bezogen hätte. Eben dies wird im ersten Teil des vorliegenden Textes nachgeholt, zum einen, um das besondere Verhältnis von Raum und Körper im Denken Foucaults dieser Zeit besser verstehen zu können; und zum anderen, weil beide an sich änigmatischen Konzepte von „anderem“ Raum und „anderem“ Körper einander gegenseitig erhellen. Dabei kommt nicht nur ein anderes Verständnis von Körperlich- oder auch Leiblichkeit in Foucaults Werk, sondern auch ein „utopisches“ und damit politisches Denken zum Vorschein, das Foucault selbst weder gesehen noch weiter verfolgt hat. Erstaunlicherweise lassen sich aber Ansätze genau dazu bei Roland Barthes finden, vor allem in seinen ersten Texten und Vorlesungen nach Antritt seiner Stelle am Collège de France, die auch als eine Hommage an Foucault verstanden werden können, dessen Engagement Barthes zu einem nicht unwesentlichen Teil seine Stelle am Collège de France verdankt. Wie Barthes hier das utopische Projekt, das Foucault mit seinen Konzepten von „anderem Raum“ und „utopischem Körper“ zu denken möglich gemacht hat, auszubuchstabieren versucht, darum geht es im zweiten Teil meiner Überlegungen.

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Notes

  1. 1.

    Zur Editionsgeschichte der Vorträge siehe Defert (2013). Im Band Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge finden sich beide Vorträge in einer deutschen und einer französischen Version (Foucault 2013a, b).

  2. 2.

    Zum Begriff des „topologischen Raums“ siehe Deleuze (1992, vor allem S. 15 ff.).

  3. 3.

    „Das ‚Gemeinsame‘ des Ortes und des Namens [ist] verlorengegangen […]: Atopie, Aphasie“ (vgl. Foucault 1974, S. 21).

  4. 4.

    Hätte Foucault sich nur etwas besser in der Geschichte der Utopie ausgekannt, wäre ihm aufgefallen, wie sehr sein Projekt der „Heterotopie“ zentrale Motive des Utopischen nicht übersteigt, sondern beerbt. So auch in diesem: Die Negation, d. i. die Kritik und damit das Aufstören des Bestehenden, gehört seit Morus zum Grundbestand utopischen Wollens. Klassische Utopien haben selten dazu gedient, Menschen zu „trösten“ angesichts ihrer Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen, sondern im Gegenteil: Utopien waren stets Versuche, die Unzufriedenheit mit dem Gegebenen zu artikulieren. Und zwar in Form einer Gegenwelt, in der das, was als kritikwürdig erschien, aufgehoben ist durch eine bessere Form der Gestaltung des sozialen Lebens.

  5. 5.

    Die berühmtesten sind wohl die Fourier’schen „Phalanstères“, Robert Owens Kolonie „New-Lamarck“ bzw. „New Harmony“, die verschiedenen Unternehmungen der Saint-Simonisten so wie Étienne Cabets „Ikarien“-Projekt. Vgl. Ramm (1964).

  6. 6.

    Vgl. etwa Morris (2009) oder Projekte wie die Gartenstadt Hellerau bei Dresden, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstand.

  7. 7.

    Dieses Paradox hat die Utopie schon immer begleitet und wurde in der Utopie-Theorie Gustav Landauers zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Punkt gebracht: der das Utopische ganz im Möglichkeitsdenken, im Übersteigen des Gegebenen auf seine Möglichkeiten hin verortete – und so jeder Utopie-Verwirklichung eine unausweichliche Utopie-Zerstörung attestiert hat (vgl. Landauer 2003).

  8. 8.

    Die letztgenannte Lesart hat lange das Verständnis der Heterotopien beherrscht; vgl. für viele mögliche andere Chlada 2005.

  9. 9.

    Darauf spielt wohl auch Foucault in seiner oben zitierten Bestimmung der Utopie in Les mots et les choses an, wenn er davon spricht, Utopien schafften einen „wunderbaren und glatten Raum“, „Städte mit weiten Avenuen“, „wohlbepflanzte Gärten“ usw.

  10. 10.

    Zum Schiff als zentralem Medium des Erschließens des Neuen noch bei Morus gesellen sich in der weiteren Geschichte der Utopie weitere schiffartige Vehikel: wie Raumschiffe etwa oder auch Zeitmaschinen.

  11. 11.

    Besonders sinnfällig wird dies in Cyrano de Bergeracs utopischer Erzählung „L’autre monde“, wo die Menschen, sobald sie den anderen Ort betreten, anfangen, sich auch selbst zu verwandeln, jünger zu werden (vgl. Bergerac 2009).

  12. 12.

    Zwei banale, allgemein bekannte Details aus der Geschichte der Utopie mögen von diesem Grundzug des Utopischen zeugen: So wunderbar (und kritisch) Utopia bei Morus dem Zeitgenossen erscheinen musste (nur sechs Stunden Arbeit, alle Grundbedürfnisse für alle gestillt), man findet in ganz Utopia keinerlei Einhorn oder andere Fabelwesen, die das Ganze eindeutig zur bloßen Fiktion gemacht hätten. Und auch in Francis Bacons Nova Atlantis wirken viele der technischen Erfindungen atemberaubend (Schiffe, die unter Wasser schwimmen; Instrumente, anhand derer man über weite Entfernungen hinweg miteinander reden kann, u. a.), die technische Entwicklung aber hat gezeigt, dass Bacon, der darin große Kenntnis besaß, stets versucht hat, im Raum des zwar Unverwirklichten, aber doch technisch Denkbaren zu bleiben.

  13. 13.

    Ein für die Entstehung von Morus’ Utopia zentraler Text war Amerigo Vespuccis Bericht von seiner Reise nach Südamerika, den dieser nicht ohne Grund „Mundus Novus“ – „Neue Welt“ – genannt hat. Denn, so behauptet Vespucci – anders als Kolumbus, der einfach meinte, eine bis dato unbekannte Insel vor China entdeckt zu haben –, seine Entdeckung sei nicht nur die einer neuen Welt gewesen, sondern nach dieser Entdeckung müsse die Alte Welt und damit die Welt insgesamt neu bestimmt werden, weil die Relationen, in denen die Welt bisher bestimmt wurde, neu, d. i. anders zu denken seien (vgl. Vespucci 2014).

  14. 14.

    Eben diese Entdeckung, dass es da etwas am Körper gibt, das in einem bloß physiologischen Begriff von ihm nicht aufgeht, kann man wohl mit Grund als zentrale Intuition der phänomenologischen Leib-Körper-Differenz ansehen. Zur Einführung in diese Thematik siehe Alloa et al. 2019.

  15. 15.

    Es ist wohl nicht zu waghalsig zu vermuten, dass hinter diesen Überlegungen eine Anleihe Foucaults bei Lacans Idee des „Spiegelstadiums“ steht, in der es ja auch zuerst um den Prozess der Ich-Konstitution durch die Spiegelerfahrung geht.

  16. 16.

    Diese Idee wurde in der Geschichte der Utopie schon früh aufgeworfen, etwa bei Cyrano de Bergerac: dank Präparierung des Körpers, der den Transfer leistet und zugleich in der neuen Welt sich wandelt (vgl. Bergerac 2009).

  17. 17.

    Wobei hier natürlich auch kritische Rückfragen zu stellen wären: Stellt – um nur eines der von Foucault gegebenen Beispiele für Heterotopien zu betrachten – das Bordell die gesellschaftliche Ordnung wirklich in Frage, oder ist das nicht eine Romantisierung, die an der Lebenswirklichkeit nachgerade zynisch vorbeigeht? Zu einer Betrachtung des Bordells als Heterotopie siehe Ziemann (2017).

  18. 18.

    Ebendiese Kritik wurde nicht zu Unrecht an Foucault häufig geübt, als er Ende der 1970er Jahr das zuvor so sorgsam aus seiner Theorie gestrichene Subjekt für sich wiederentdeckt hat: dass diese durch besondere Praktiken gestaltete „Ästhetik der Existenz“ vom liberalen „Lifestyle“, d. i. dessen Egologie schwer zu unterscheiden ist.

  19. 19.

    Für eine ausführlichere Betrachtung des Projekts der „Idiorrhythmie“ siehe Klass (2015).

  20. 20.

    Giorgio Agamben hat im vierten und letzten Teil seines Homo-sacer-Projekts ein Modell von Gemeinschaft entworfen, das in vielerlei Hinsicht sowohl an Foucault – vor allem dessen Überlegungen zur Biopolitik, d. i. zum Einbezug des „Lebens“ in die Politik – als auch (ohne es zu wissen) an Barthes’ mönchische Vision des Zusammenlebens anschließt. Hier gäbe es noch manches für die politische Philosophie zu entdecken (vgl. Agamben 2012).

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Klass, T.N. (2020). „Der Körper ist der kleine utopische Kern, der Mittelpunkt der Welt“. In: Kadi, U., Unterthurner, G. (eds) Macht - Knoten - Fleisch. Abhandlungen zur Philosophie. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_5

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