Skip to main content

Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie

  • Chapter
  • First Online:
Mensch und Erzählung

Part of the book series: Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature ((SWSWL,volume 9))

  • 1099 Accesses

Zusammenfassung

Das 3. Kapitel gibt auf philosophisch-systematischer Ebene einen Überblick über die grundlegenden Begriffe der Philosophischen Anthropologie Plessners, die im weiteren Verlauf der Arbeit dann literaturtheoretisch und literaturanalytisch thematisiert und angewandt werden. Der naturphilosophisch orientierte Begriff der exzentrischen Positionalität bildet hierbei den Dreh- und Angelpunkt, von dem aus Plessner die von ihm so genannten drei anthropologischen Grundgesetze der natürlichen Künstlichkeit, der vermittelten Unmittelbarkeit und des utopischen Standorts ableitet und der im Wechselverhältnis mit dem geschichtsphilosophisch orientierten Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen steht.

Mit jedem Begriff werden bestimmte Horizonte, aber auch Grenzen möglicher Erfahrung und denkbarer Theorie gesetzt

Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 64.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Hardcover Book
USD 84.99
Price excludes VAT (USA)
  • Durable hardcover edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Die Problematisierung der Doppeldeutigkeit der menschlichen Seinsweise bildet ein zentrales und grundlegendes Thema der menschlichen Geschichte: „Die Dokumente, die das Bewusstsein von der Doppeldeutigkeit unserer Existenz belegen, reichen weit zurück“, schreibt Meyer-Drawe (2002: 366) und verweist dabei auf einen ersten Einsatz in der platonischen Philosophie.

  2. 2.

    Eine Fortschreibung dieses alten Problems beobachtet Fischer (2005) bspw. auch in den aktuellen Entwicklungen und Verfahren der Neurowissenschaften einerseits und der Evolutionsbiologie andererseits.

  3. 3.

    „Wir verstehen uns als Lebewesen nur über unser Ausdrucksverhalten. Das bedeutet: Wir verstehen uns nur, wenn wir auch verstehen, was das eigentlich ist: Ausdruck“ (Schloßberger 2008: 212, Anm. 4).

  4. 4.

    Der Doppelaspekt ist als wesentliches Erscheinungsmoment allen Erscheinungen konstitutiv: „Wesenscharaktere des Körperdings bleiben die gleichen, ob es sich um nicht-belebte oder belebte Dinge handelt. Frosch oder Palme unterliegen denselben Erscheinungsgesetzlichkeiten der Dinglichkeit (von der breiten Zone durchgehender physikalischer Gemeinsamkeiten zu schweigen) wie Stein oder Schuh“ (Stufen 89).

  5. 5.

    Vgl. auch: „In der vorwissenschaftlichen Anschauung eines Phänomens haben wir den Eindruck, dass die Eigenschaften des Phänomens mit einem gleichsam ‚in‘ diesem Phänomen befindlichen Kern korrespondieren. Sichtbar ist eine phänomenale Differenz, der zufolge Eigenschaften stets auf etwas weisen, was ihnen gegenüber selbständig ist und die Eigenschaften als Eigenschaften ‚hat‘“ (Ebke 2012: 53). Zur Innen-Außen-Differenz am unbelebten Körper vgl. auch Köllner (2006: 281). Im Gegensatz zu Köllner und Fischer (2000: 271) unterscheidet Arlt (2001: 101) bereits anhand des Doppelaspekts den belebten vom unbelebten Körper; wobei sich nur bei Ersterem der Doppelaspekt feststellen ließe. Diese Deutung lässt sich so jedoch nicht belegen und steht im Widerspruch zu den Ausführungen Plessners in den Stufen des Organischen (81–89). Plessner spricht hier auch von einer in zwei Richtungen verlaufenden Transgredienz des Wahrnehmungsdings: „Für die konkrete Dingerscheinung bestehen zwei Richtungen der Transgredienz, die – den räumlichen Bestimmungen eigentümlich entsprechend – wesenhaft zusammengehören, obwohl sie nie zusammenfallen: die Transgredienz vom Phänomen ‚in‘ das Ding ‚hinein‘ und ‚um‘ das Ding ‚herum‘. Die erste Richtung zielt auf den substantiellen Kern des Dinges, die zweite Richtung zielt auf die möglichen anderen Dingseiten. Zum reellen Bilde gehört diese doppelte Blickführung, wenn es als gegenwärtiges Ding wahrgenommen werden soll, und erst in dieser doppelt gerichteten Blickgebung erscheint das räumlich sinnliche Phänomen als kernhaft geordnete Einheit von Seiten, als Ding“ (Stufen 82 f.).

  6. 6.

    Dem Konzept der Grenze kommt dabei mit Blick auf die weitere Systematik Plessners eine bedeutende Funktion zu: „Plessners Grundanliegen, die besondere und einzigartige Stellung des Menschen in der Welt zu denken und ineins die Depotenzierung dieser ‚Sonderrolle‘ durch die Nebenordnung des Menschen in eine Reihe neben allen anderen Naturkörpern, wird hier auf der Ebene der lebendigen Naturkörper bereits grundgelegt“ (Schürmann 2011: 192).

  7. 7.

    Dabei soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass Plessner hier keine evolutionsbiologische Genese der Stufen schreibt, sondern die verschiedenen Organisationsformen anhand phänomenologisch-hermeneutischer Begrifflichkeiten idealtypisch erfasst: „Weder die exzentrische Positionalität noch die anderen Organisationsformen der Positionalität werden unter dem Gesichtspunkt ihrer Entstehung und Entwicklung betrachtet“ (Meuter 2006: 109).

  8. 8.

    So schreibt auch Asemissen (1991: 156): „Grenze ist hier ‚das leere Zwischen‘, das ontisch weder dem Körper noch dem Medium angehört und nur den Ort ihrer wechselseitigen Begrenzung bezeichnet“.

  9. 9.

    Bek (2011: 48) spricht auch von zwei Funktionen, die an der Grenze des lebendigen Körpers unterschieden werden können: eine „Zäsurfunktion“ und eine „Brückenfunktion“.

  10. 10.

    Denn Plessner unterwandert das dualistische Problem in der Frage nach der Einheit des Organismus: „Die dualistischen Alternativen finden auf der Phänomenebene des Lebendigen (und des begrifflichen Fassens als Grenzverhalten) einen Übergang, eine Schnittmenge oder einen Ausgangspunkt. Das ontologisch Fundierte entweder Innen oder Außen des cartesischen Dualismus wird durch das sowohl nach Innen als auch nach Außen der Grenze auf der Ebene des Phänomens des Lebens entfundamentalisiert und dynamisiert“ (Bek 2011: 51).

  11. 11.

    Als Definition von Positionalität kann gelten: „In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich also der organische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter oder seine Positionalität. Hierunter sei derjenige Grundzug seines Wesens verstanden, welcher einen Körper in seinem Sein zu einem gesetzten macht. […] In den spezifischen Weisen ‚über ihm hinaus‘ und ‚ihm entgegen‘ wird der Körper von ihm abgehoben und zu ihm in Beziehung gebracht, strenger gesagt: ist der Körper außerhalb und innerhalb seiner“ (Stufen 129).

  12. 12.

    Ebke fasst die Unterscheidung zwischen anorganischen und organischen Körpern anhand des Grenzbegriffs prägnant zusammen: „Während natürliche, aber nicht-lebendige Körper kraft des Doppelaspekts erscheinen und eine räumliche Umrandung haben, erscheinen lebendige Körper im Doppelaspekt, und zwar deswegen, weil sie sich zu ihrer Grenze verhalten – die Grenze verstanden als der Punkt, an dem sich die Bewegungsrichtungen von Innen nach Außen und von Außen nach Innen verschränken“ (Ebke 2012: 83).

  13. 13.

    Habermas zufolge ist dies der entscheidende Punkt, an dem sich die Anthropologie aus einer „metaphysischen Klammer“ löst: „nicht mehr ein Gegensatz von Geist und Leben, von mehr das christliche Schema von Seele und Leib, nicht das cartesische von Bewusstsein und Körper sind maßgebend für den Begriff des Menschen. Die Anthropologie wird vielmehr in doppelter Hinsicht neutral: sie handelt nicht mehr von Prinzipien oder Substanzen, sondern von Strukturen. Pflanze, Tier und Mensch werden jeweils im Verhältnis zu ihrer ‚Sphäre‘, zu Umfeld, Umwelt und Welt untersucht; ihre ‚Positionsform‘, das Verhältnis nämlich, in dem Leib und Umwelt zueinander stehen, wird zum Schlüssel einer Anthropologie“ (Habermas 1958: 24). Dabei wird von Habermas allerdings nur ein Aspekt der Struktur betont: das Verhältnis zwischen dem Organismus und seiner Umgebung. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, dass es sich hierbei immer um ein doppeltes Verhältnis des Organismus handelt: zu seiner Umgebung und zu sich selbst (auch wenn Letzteres in der offenen Positionalitätsform der Pflanze nicht realisiert wird).

  14. 14.

    Die beiden Begriffe der offenen bzw. geschlossenen Form übernimmt Plessner von dem Biologen Hans Driesch (Stufen 219).

  15. 15.

    Mit anderen Worten: Da der Mensch an die zentrische Organisationsform gebunden bleibt, so muss er auch „körperlich Tier bleiben“ (Stufen 230).

  16. 16.

    Die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu seinem Körper bildet für Plessner dabei eine „Kardinalfrage menschlicher Existenz“ (GS VII 437).

  17. 17.

    „Im Regelfall steckt hinter einer leiblichen Bewegung ihr früheres Erlernen als eine Verkörperung. Was mir Nichtsportler wie eine unmögliche Körperbewegung vorkommt, ist dem Leistungssportler längst zu einer durch jahrelanges Training vertrauten Leibbewegung geworden“ (Krüger 2000: 293).

  18. 18.

    Hier zeigt sich schon, dass mimetische Expressivität als ein charakteristischer Wesenszug exzentrischer Lebewesen zu verstehen ist (Meuter 2006: 94–96 und 115–125).

  19. 19.

    Dies ist auch der Aspekt, der zu einer Unterscheidung der Begriffe Welt und Umwelt führt. Während das Tier in seine Umwelt – als einer aus der Perspektive des zentrisch organisierten Lebewesens auf dieses hin gerichteten Ordnung von Sinnbezügen – eingeordnet lebt, wird dem Menschen durch sein Herausgehobensein seine Umwelt zur Welt: den sinnfreien Gegenständlichkeiten seiner Umgebung (Vgl. GS VIII 77–83). Klassisches Beispiel für die Umweltgebundenheit des Tieres sind die Forschungen Jakob von Uexkülls geworden, auf die sich auch die philosophische Anthropologie bezieht (siehe z. B. Plessners Conditio humana). Dieser bestätigte experimentell Herders Vermutung, dass das Tier immer in einem artspezifischen Umweltgehäuse lebt, in dem seine angeborenen instinktiven Bewegungsschemata durch eine geringe Anzahl von sinnlichen Reizen ausgelöst werden (Habermas 1958: 23). Die wie Filter arbeitenden Sinnesorganen nehmen dabei nur diejenigen Reize auf, die auch von unmittelbarer Lebensrelevanz sind (ebd.).

  20. 20.

    Dass Person-Sein mehr als nur die Differenz von Körper-Haben und Leib-Sein bedeutet, wird von Ebke (2012: 113) angeführt: „Personen sind demnach vielmehr Wesen, die sich zu der problematischen Differenz zwischen ihrem Leib und ihrem Körper verhalten und die sich als ein Selbst nur dank der merkwürdigen Verschachtelung erfahren können, wonach sie schon immer außerhalb ihrer selbst sind“.

  21. 21.

    Grundlage dessen ist, dass Welt dem Menschen nicht etwa nur als etwas neutral Gegebenes und objektiv Erfahrbares – als die Welt – gegenübertritt, sondern immer als seine (Lebens-)Welt, in der er sich befindet. Plessner verweist in seinem Aufsatz Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen auf ein einfaches Beispiel: Ein und derselbe Wald erscheint in den Augen unterschiedlicher Betrachter immer auch als ein anderer Wald – abhängig insbesondere von „der so vielfältig wechselnden Situiertheit des Menschen“ (GS VIII 84) und den damit einhergehenden jeweiligen Interessenlagen: „Das oft zitierte Beispiel von demselben Wald, der für den Bauern Gehölz, für den Holzhändler so und soviel Kubikmeter Nutzholz, für den Jäger Jagdgebiet, für den Förster Forst und Gehege, für den Verfolgten Unterschlupf, für den Dichter Waldesweben, für den Spaziergänger und Bewohner Landschaft, für den Botaniker Mischwald usw. ist, zeigt in dem Aufweis von Umweltrelationen auf Berufe und Haltungen zugleich die Abhebbarkeit, Verknüpfbarkeit und Fundiertheit der wechselnden Aspekte und Physiognomien“ (ebd.). Wobei all diese situationsabhängigen Betrachtungsweisen auch in einer Person vereint sein können (ebd.). Seine Welt kann dem Menschen dabei auch zur „Umwelt“ werden. Mit Verweis auf Rothacker führt Habermas (1958: 31) aus, dass der jeweilige Lebensstil des Menschen in seiner jeweiligen Gesellschaft/Kultur/Tradition umwelthafte Züge annehmen kann, indem er ein bestimmtes sprachlich vorformuliertes Weltbild ebenso vorgibt und verfestigt wie bestimmte Haltungen, Ansichten und Interessen. Auch nach Plessner erzwingt die konkrete Situiertheit des Menschen bestimmte Vorlieben, Vorurteile und Vorwegnahmen im Gesichtsfeld der Wahrnehmung (GS VIII 84 f.). Zum Ausdruck gebracht wird damit dasjenige, was Nietzsche in der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse als die Grundbedingung des Lebendigen bezeichnet: das Perspektivische (Nietzsche KSA 5: 12). Demzufolge erfasst jedes Lebewesen von der Realität immer nur seinen spezifischen Ausschnitt, einen Ausschnitt, der ihm jedoch immer als das Ganze erscheint (Gerhardt 1999: 138). Dennoch ist es zweifelhaft, ob der Begriff der Umwelt im selben Maße auf den Menschen angewandt werden kann wie auf das Tier. Denn einerseits ist die „Umwelt“ des Menschen nicht nur ein (naturhaft) Vorgegebenes (in das er sich einzupassen hat), sondern ein durch ihn Geschaffenes und damit von ihm Bedingtes (auch wenn es ihn bedingt). Und andererseits ist mit der Exzentrizität des Menschen die Fähigkeit verbunden, sich selbst und seine „Umwelt“ nicht nur zuständlich zu erleben, sondern auch gegenständlich zu betrachten. Damit aber geht er allein in seinem Perspektivismus nicht auf. Er wird weltoffen und kann die Dinge als Dinge (losgelöst von seiner selbst) (wieder)erkennen. Und schließlich kann er seine jeweilige „Umwelt“ auch verlassen und sich in eine andere versetzen. Was er allerdings nicht kann, ist „umweltlos“ – d. h. außerhalb einer Lebenswelt – leben. Daher scheint es, so man die konkrete Umgebung des Menschen bezeichnen möchte, sinnvoller zu sein, von Lebenswelt zu sprechen, da dieser Begriff der vielfältig wechselnden Situiertheit des Menschen in den Standorten eines Volkes, einer Klasse, einer Gegend, eines Berufe und eines Glaubens berücksichtigt (GS VIII 84 f.). Habermas verortet den Menschen dementsprechend in einer Position zwischen Umweltgebundenheit und Weltoffenheit: „die Menschen können im Prinzip ihre Lebenswelt überschreiten, sie können sie erweitern und in andere ‚Welten‘ übersetzen […]; aber sie können sie nicht eigentlich ausstreichen oder einklammern, solange aus ihnen Motive fürs Handeln gezogen werden. […] Das eine oder andere, für sich genommen, träfe nur für Tiere oder Engel zu; der Mensch aber steht zwischen beiden“ (Habermas 1958: 32).

  22. 22.

    Das heißt: „als Ding unter Dingen an beliebigen Stellen des Einen Raum-Zeitkontiuums“ (Stufen 294).

  23. 23.

    Das heißt: „als um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossenes System in einem Raum und einer Zeit von absoluten Richtungen“ (Stufen 294).

  24. 24.

    „Wirkliche Innenwelt: das ist die Zerfallenheit mit sich selbst, aus der es keinen Ausweg, für die es keinen Ausgleich gibt. Das ist der radikale Doppelaspekt zwischen der (bewusst gegebenen oder unbewusst wirksamen) Seele und dem Vollzug im Erlebnis, zwischen Notwendigkeit, Zwang, Gesetz geschehender Existenz und Freiheit, Spontaneität, Impuls vollziehender Existenz“ (Stufen 299).

  25. 25.

    Denn der Begriff der Mitwelt fußt auf der Personalität (und damit Exzentrizität) und der mit dieser gegebenen „Einanderstruktur“ (GS VIII 296) des Menschen. Allerdings wird die Mitwelt nicht etwa nur durch den geistigen Charakter der Person gebildet. Sie ist zugleich auch Voraussetzung dafür, dass sich der Mensch als Person erfasst. Mitwelt und Personalität stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander (Köllner 2006: 287). Zu Plessners Sozialtheorie siehe ausführlicher u. a. Grenzen der Gemeinschaft sowie die Aufsätze Ungesellige Geselligkeit und Soziale Rolle und menschliche Natur. Zum allgemeinen Verhältnis von Anthropologie und Sozialtheorie bei Plessner siehe u. a. Lindemann (2006).

  26. 26.

    Dieser Befund ist es auch, der Herder und – an diesen anschließend – Gehlen vom Menschen als einem „Mängelwesen“ sprechen lässt. Demzufolge ist der Mensch auf kulturelle Erzeugnisse angewiesen, um seine biologischen Mängel – v. a.: das Fehlen des tierischen Instinktes – auszugleichen. Verbreitung findet dieses Philosophem auch durch die medizinische Anthropologie im 19. Jahrhundert (vgl. Marquard 1971: 368). So schreibt bspw. der Mediziner Ennemoser 1828: „Nach seinen physischen Kräften … entdeckt man an ihm [dem Menschen, M.W.] bald … Mängel, vermöge welcher er mit den Tieren keinen Vergleich aushält … Aber vermöge seines Geistes ist er über die Natur erhaben“ (zit. nach ebd.). Aus diesem Gedanken wird Gehlen schließlich seine sog. Institutionenlehre entwickeln. Odo Marquard spricht in diesem Kontext auch vom Menschen als homo compensator und kann den Kompensationsbegriff sowohl bei Gehlen als auch bei Plessner ausmachen (vgl. Marquard 2000a: 12 f.). Grundlegend für beide – Gehlen wie auch Plessner (Stufen 316) – ist auch die Auseinandersetzung mit Nietzsches „noch nicht festgestelltem Thier“ (Nietzsche KSA 5: 81; vgl. Hog 2015: 36 f.). In Der Antichrist schreibt Nietzsche dazu: „der Mensch ist, relativ genommen, das mißratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte – freilich, mit alle dem, auch das interessanteste“ (Nietzsche KSA 6: 180). Nietzsche kommt hier u. a. zu dem Schluss, dass nicht nur jegliche kulturellen Erzeugnisse, sondern auch die menschliche Vernunft letztlich nichts anderes als notdürftige Kompensationen natürlich vorgegebener physischer und psychischer Mängel sind (vgl. Gerhardt 1999: 75). Dabei verwendet Plessner auch explizit den Begriff des Kompensierens: „Der Mensch will heraus aus der unerträglichen Exzentrizität seines Wesens, er will die Hälftenhaftigkeit der eigenen Lebensform kompensieren und das kann er nur mit Dingen erreichen, die schwer genug sind, um dem Gewicht seiner Existenz die Wage zu halten“ (Stufen 311). In ähnlicher Weise spricht er auch davon, dass der Mensch „unter Einsatz aller seiner Möglichkeiten die Mängel auszugleichen [hat], welche sein Positionalitätscharakter mit sich bringt: Schwächung der Instinkte, Objektivierung bis zur Verdinglichung“ (GS VIII 398). Allerdings distanziert sich Plessner aus biologischen Gründen auch ebenso scharf vom Begriff des Mängelwesens; sei dieser doch einem bloß verkürzten Blick auf die organische ‚Hälfte‘ der menschlichen Lebensform geschuldet und damit Ausdruck einer selektiven Wahrnehmung (Bek 2011: 81). In der Vortragsversion zu Der Mensch als Lebewesen findet sich bspw. folgende, in den Gesammelten Schriften nicht abgedruckte, Passage: „Mit Begriffen wie Mängelwesen (glatter Nonsens gegenüber der hoch getriebenen Cerebralisierung) und Entlastung lassen sich nur Gesinnungsbiologisten täuschen, die von Biologie ebensowenig Ahnung haben wie die verkommenen Rasseschwätzer des Dritten Reiches“ (zit. nach Kämpf 2001: 122, Anm. 100). Darüber hinaus sei dieses Konzept, so Plessner im Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen, nur von „begrenzter Tragweite“ (Stufen xv).

  27. 27.

    Pietrowicz (1992: 447) zufolge versuche Plessner auch hierbei wieder, ein dialektisches Verhältnis von Geist und Natur, von menschlicher Produktivität und vorgegebenen Möglichkeiten herzustellen.

  28. 28.

    „Weil dem Menschen durch seinen Existenztyp aufgezwungen ist, das Leben zu führen, das er lebt, d. h. zu machen, was er ist – eben weil er nur ist, wenn er vollzieht –, braucht er ein Komplement nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich“ (Stufen 310). In den Stufen des Organischen und der Mensch diskutiert Plessner dabei auch konkurrierende Kulturtheorien, so u. a. die von Nietzsche, Freud und Darwin (ebd., 311–316), die er als Grundlagen für das Verständnis der Existenz von Kultur jedoch verwirft, da die menschliche Kultur ihren „letzten Grund nicht im Trieb, im Willen in der Verdrängung, sondern in der exzentrischen Lebensstruktur, im Formtypus der Existenz selber“ (ebd., 316) findet.

  29. 29.

    Doch sollte „menschliche Natur“ hier nicht falsch verstanden werden. Es ist weder eine Zone menschlicher Eigentlichkeit im Sinne Heideggers noch eine Theorie des Naturzustands im Sinne Hobbes oder Rousseaus gemeint. Jegliche Authentizitätskonzepte werden von Plessner verworfen.

  30. 30.

    „Die konstitutive Gleichgewichtslosigkeit seiner besonderen Positionalitätsart – und nicht erst die Störung eines ursprünglich normal, harmonisch gewesenen und wieder harmonisch werden könnenden Lebenssystems ist der ‚Anlaß‘ zur Kultur“ (Stufen 310).

  31. 31.

    So verweist auch Soeffner darauf, dass sich im Begriff der Exzentrizität der Ursprung sowohl des alltäglichen als auch des künstlerischen Handelns finden lässt: „Aus der uns vorgegebenen, exzentrischen Positionalität erwachsen sowohl die Zwänge, Notwendigkeiten und ‚Selbstverständlichkeiten‘ des alltäglichen Handelns und der alltäglichen Lebenswelt als auch der Spiel- und Freiheitsraum ästhetischen Handelns und ästhetischer Erfahrung“ (Soeffner 2005: 62). Beide, ästhetischer wie alltäglicher Erkenntnis-, Wahrnehmungs- und Handlungsstil, „sind als strukturell vorgegebene Ausdrucksformen exzentrischer Positionalität gleichursprünglich“ (ebd.).

  32. 32.

    Dies gilt ebenso für das Tier, nur mit dem Unterschied: Die vermittelte Unmittelbarkeit erscheint dem Tier nicht als eine solche; dem Menschen hingegen schon (vgl. Fischer 2000: 278): „Er steht im Zentrum seines Stehens. Er bildet den Punkt der Vermittlung zwischen ihm und dem Umfeld und er ist in diesen Punkt gesetzt, er steht in ihm. Das heißt einmal: seine Beziehung zu anderen Dingen ist zwar eine indirekte, er lebt sie aber als direkte, unmittelbare Beziehung ganz wie das Tier –, soweit er wie das Tier dem Gesetz der geschlossenen Lebensform und ihrer Positionalität unterworfen ist. Und das heißt zum anderen: er weiß von der Indirektheit seiner Beziehung, sie ist ihm als mittelbare gegeben“ (Stufen 325).

  33. 33.

    So schreibt auch Lindemann (2008: 86): „Der Organismus erscheint als ein merkendes und wirkendes Ding. Expressivität ist nicht mit Wirken gleichzusetzen, denn auch das Merken ist expressiv realisiert. Es ist dem Organismus anzusehen, 1. dass er sein Umfeld merkt, 2. dass er auf sein Umfeld wirkt, 3. dass er beides miteinander vermittelt“.

  34. 34.

    Dabei ist nach Schloßberger (2008: 211) der Begriff des Ausdrucks wesentlich mit dem Begriff des Leibes verbunden: „Das, was am Leib im Verhalten zu sehen ist, heißt Ausdruck. Nur der Leib zeigt einen Ausdruck, ein Körper kann keinen Ausdruck haben.“ Plessner führt dazu grundlegend aus: „Naiv betrachtet, liegt der Fall so, daß ich die körperlichen Bewegungen des anderen Menschen, einerlei ob ich sie nun faktisch verstehe oder nicht verstehe, von vornherein als deutbar, als sinnhaft wahrnehme. Mir steht nicht ein bloßer Körper gegenüber, an dem ich bestimmte Bewegungen ablese, sondern ein lebendiger Leib. Es erwächst mir infolgedessen auch garnicht die Aufgabe, aus den Veränderungen eines Körpers auf bestimmte psychische Ursachen zu schließen, sondern in den Bewegungen des Leibes manifestiert sich die an und für sich schon sinnhafte Situation, deren Deutung in dem oder jenem Sinne an bestimmte Kriterien gebunden ist. Der Träger des Leibes wird dabei weder als Körper noch als Seele, sondern als gegen diesen gedanklichen Unterschied indifferent erfaßt“ (Stufen 26 f.).

  35. 35.

    Schloßberger (2008: 215) unterscheidet zwischen einem Ausdrucksverhalten, das auf konventionellen Zeichen beruht („Ja“/„Nein“, Kopfschütteln etc.), und einem Ausdruckverhalten, das nicht auf Konvention beruht (Lachen/Weinen). Damit verbunden ist, so Plessner in Die Einheit der Sinne, auch der Unterschied zwischen zwei Schichten bzw. Ebenen des Ausdrucks: „eine des ‚natürlichen‘, wesenhaften Ausdrucks, die dem Typus Mensch zugehört, und eine darauf aufbauende Schicht des konventionellen, nach Rasse und Kultur verschiedenen Ausdrucks“ (GS III 241 f.) Meuter (2006: 92 ff.) überträgt in seiner Interpretation die Differenz zwischen natürlichem und konventionellem Ausdruck in das Schema von Leib-Sein und Körper-Haben.

  36. 36.

    Ein scheinbar direkter Zugang des Menschen zu sich selbst, wie er z. B. mit dem Konzept der Introspektion verbunden ist, kann für Plessner (ebenfalls im Anschluss an Dilthey) daher keine große Rolle spielen (vgl. Kämpf 2006: 236). Vielmehr ist Selbsterkenntnis bei Plessner (und Dilthey) nur über den Umweg des Verstehens von fixierten bzw. objektivierten Lebensäußerungen und Handlungen möglich (ebd., 248).

  37. 37.

    Wilwert (2009: 180 f.) spricht hierbei auch von einer „doppelte[n] Beziehung zwischen Mensch und Kultur: Makroskopisch betrachtet, ist der Mensch der Schöpfer der Kultur, vom Standpunkt des Einzelnen aus gesehen, ist er jedoch vor allem das Geschöpf einer bestimmten Kultur, die ihm als objektive Größe gegenübersteht und auf die er selbst nur in sehr beschränktem Maß schöpferisch Einfluss nehmen kann“.

  38. 38.

    Damit ist der menschliche Ausdruck nicht einfach nur eine Verkörperung von Innerem durch Äußeres – ein bloßes ‚Herauslassen‘ –, sondern immer auch eine Form des Selbstverhältnisses (vgl. Habermas 1958: 30). Aus dieser Grundkonstellation ergibt sich auch die von Plessner betonte Verantwortung des Menschen für die Gestaltung seiner Welt und Geschichte – ist diese doch letztlich eine Verantwortung gegenüber sich selbst (Macht 163).

  39. 39.

    Hier zeigt sich dieselbe Denkfigur wie schon beim Begriff der Immanenz: das dialektische Verhältnis zwischen Verhüllung und Enthüllung, das seinen Ursprung in der vermittelten Unmittelbarkeit der exzentrischen Positionalität hat. War sie bei diesem (dem Begriff der Immanenz) nach innen auf den Bewusstseinsinhalt gerichtet, so ist sie hier (dem Begriff der Expressivität) nach außen auf das Ausdrucksverhalten gerichtet.

  40. 40.

    Dazu schreibt Bielefeld (1994: 86): „Mit Dilthey hält Plessner daher fest, dass wir das Wesen des Menschen nur über die Geschichte erfassen können. Das ‚Wesen‘ des Menschen besteht gerade darin, kein eindeutiges ‚Wesen‘ zu haben, unerschöpfliche Möglichkeiten zu bergen, die sich im Raum der Geschichte entfalten“.

  41. 41.

    Insofern zeigt sich für Plessner in der Geschichte auch eine Verschränkung von Apriori und Aposteriori; bilden doch beide einen Lebenszusammenhang, in dem es „weder die Kluft zwischen einer zeitlosen Sphäre ewiger Sachverhalte, Werte, Wahrheiten und einer zeitlichen Wirklichkeit, noch die Kluft zwischen der Historie und ihrem Betrachter nach Art der Wahrnehmungskluft zwischen Auge und Gegenstand [gibt]“ (Macht 171).

  42. 42.

    Hierbei lässt sich auch eine Verbindung zwischen menschlicher Einbildungskraft und utopischem Standort herstellen. Denn insofern sich der Mensch imaginär in andere oder neue Welten versetzt, entdeckt er auch die Kontingenz seiner aktuell gewählten oder übernommenen Lebensform (Delitz 2008: 79).

  43. 43.

    „Wie sich die Welt als eine Individualität nur abhebt vom Horizont der Möglichkeit des auch anders sein Könnens, so hebt sich dem Menschen sein eigenes Dasein als individuelles nur gegen die Möglichkeit ab, daß auch er ein anderer hätte werden können“ (Stufen 343).

  44. 44.

    „Bewusstsein der Individualität des eigenen Seins und der Welt und Bewusstsein der Kontingenz dieser Gesamtrealität sind notwendig miteinander gegeben und fordern einander. An der eigenen Haltlosigkeit, die dem Menschen zugleich den Halt an der Welt verbietet und ihm als Bedingtheit der Welt aufgeht, kommt ihm die Nichtigkeit des Wirklichen und die Idee des Weltgrundes. Exzentrische Positionsform und Gott als das absolute, notwendige, weltbegründende Sein stehen in Wesenskorrelation“ (Stufen 345).

  45. 45.

    „Angesichts des Zusammenspiels von Nichtfestgestelltheit, Unsicherheit und Endlichkeit besteht das dem Menschen auferlegte und insofern notwendige Ziel des dem Pragma verpflichteten, alltäglichen Handelns darin, so weit wie möglich Sicherheit, Ordnung, Überschaubarkeit und Planbarkeit herzustellen“ (Soeffner 2005: 62).

  46. 46.

    Das Verhältnis der menschlichen Individuen untereinander bestimmt Plessner in seinem Aufsatz Ungesellige Geselligkeit als ein per se labiles (GS VIII 301). In den Stufen des Organischen schreibt er: „Denn von Natur, aus seinem Wesen kann der Mensch keine klaren Verhältnisse zu seinem Mitmenschen finden. Er muss klare Verhältnisse schaffen. Ohne willkürliche Festlegung einer Ordnung, ohne Vergewaltigung des Lebens führt er kein Leben“ (Stufen 344). Aus dieser Richtung erklärt sich auch Plessners Kritik an der Sozialtheorie Ferdinand Tönnies’. Dieser argumentiert in seiner 1887 erschienenen und daraufhin sehr stark rezipierten Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft für die Gemeinschaft als die dem Menschen entsprechende Form des Zusammenlebens. Denn das Verhältnis der Individuen zueinander ist in der Gemeinschaft Tönnies zufolge ein unmittelbares, ursprüngliches und daher auch natürliches, das aus der „vollkommenen Einheit menschlicher Willen“ (Tönnies 1991: 46) entsteht. Daraus ergibt sich, „daß Gemeinschaft selber als ein lebendiger Organismus, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefakt verstanden werden soll“ (ebd., 4). Daher erscheint die Gemeinschaft auch als die der menschlichen Natur entsprechende Lebens- und Sozialform, in ihr ist der Mensch bei sich (ebd., 13).

  47. 47.

    Damit übt Plessner zugleich Kritik an der Entfremdungskritik. Denn Entfremdungskritik ist systematisch entweder auf eine essenzialistische oder eine geschichtsphilosophische Begründungsfigur angewiesen (Jaeggi 2009: 318) – welche beide für Plessner allerdings problematisch erscheinen.

  48. 48.

    In ihrer umfangreichen Deutung der Philosophischen Anthropologie Plessners führt Mitscherlich (2007: 230 f.) aus, dass Religion und Kultur (wie auch Gemeinschaft und Gesellschaft) – auch und vor allem in ihrem Widerstreit – gleichrangig und irreduzibel nebeneinander existieren und beiderseits auf die wesensnotwendige Heterogenität des menschlichen Daseins verweisen (auch, wenn Plessner in den Stufen eine durchaus religions- wie auch gemeinschaftskritische Position expliziert): „Nur wenn man auf Religion mit einem kulturellen Blick schaut, erscheint die religiöse Transzentenzbehauptung als menschlicher Versuch, die Brechungen der menschlichen Existenz endgültig zu befriedigen. Nur wenn man Kultur derart als Begleiterscheinung von Religion begreift, zeigt sich das menschliche Leben in seiner Tatsächlichkeit durch die Entzogenheit des erstrebten Wahrheitsgrundes bestimmt. Umgekehrt erscheint Kultur allein für einen religiösen Blick als in sich kreisender und ins Leere laufender Vollzug des Erkennens und Schaffens“ (Stufen 345 f.). Der „Kampf von Religion und Kultur“ zeige in seiner Unversöhnlichkeit, „daß die Frage nach dem letzten Wahrheitsgrund weder – wie die Kultur meint – leer, noch – wie die Religion meint – beantwortbar ist“ (ebd., 231).

  49. 49.

    Dabei wird Tugendhat schließlich einen anderen – sprachphilosophischen – Weg als Plessner hinsichtlich der Frage nach dem Ursprung der immanenten Transzendenz im Bewusstsein des Menschen einschlagen. Beiden gemeinsam ist, dass sie den Vorgang des Transzendierens an den Vorgang der Verobjektivierung binden, also an die Fähigkeit des Menschen, in Distanz zu seinem eigenen Selbst und zu seiner Welt zu gehen und diese als Gegenstände in den Blick zu nehmen (Tugendhat 2007: 20). So schreibt Plessner z. B. in Homo absconditus: „Die Möglichkeit des Objektivierens liegt nur beim Menschen“ (GS VIII 364). Diese Möglichkeit der Verobjektivierung – die sich bei Plessner naturphilosophisch aus der grundsätzlichen Gebrochenheit der exzentrischen Positionalität ergibt – wird von Tugendhat, eben im Unterschied zu Plessner, auf die prädikative Struktur der menschlichen Sprache zurückgeführt, die es erlaubt, sich auf Dinge zu beziehen, die unabhängig von der jeweiligen Sprechsituation sind (Tugendhat 2007: 22): „Plessner erklärte, daß der Mensch sich in Frage stellen muß, weil er sich objektiviere. Aber es scheint viel klarer anders herum: Der Grund, warum der Mensch die Dinge und auch sich selbst objektiviert, ist, daß er sich auf alles in einer Satzsprache bezieht“ (ebd., 24). Dieser Objektivierung mittels Satzsprache kommt nach Tugendhat zugleich auch eine biologische Funktion zu, die ein neues kognitives Niveau – die Entwicklung des instrumentellen Denkens – erzeugt und damit einen Überlebensvorteil sichert (ebd., 24 f.). Anschließen lässt sich dieser Befund Tugendhats auch an die evolutionsbiologisch begründete literarische Anthropologie Eibls, der – auch mit Blick auf ethnolinguistische Untersuchungen – vom „Primat des Sachbezugs der Menschensprache“ (Eibl 2004: 226) ausgeht und der Funktion der sprachlichen Vergegenständlichung eine zentrale Rolle in seinem systematischen Ansatz zuweist. Dabei stellt für ihn die Ausdifferenzierung des Sachbezugs einen entscheidenden Evolutionsschritt dar (ebd., 229).

  50. 50.

    „Im spielerischen Transzendieren seiner Endlichkeit schafft sich der Mensch eine eigene Spiegelwelt, eine Welt von Ausdrucksphänomenen und Bewusstseinsäquivalenten, die das Leben in der Spannung von Endlichkeit und Unendlichkeit halten“ (Bialas 2005: 109).

  51. 51.

    Und sich selbst zugleich darüber hinwegtäuscht, dass er diese vermeintlich überzeitlichen Systeme aus sich selbst erzeugt; was, zumindest aus der Perspektive einer bestimmten Interpretationsrichtung, auch gewissermaßen als notwendig erscheint: „Der Nachweis schließlich ihrer geschichtlichen und naturhaften Seinsgebundenheit, des kulturellen Standortes ihrer als objektiv, unabhängig und selbstverständlich beanspruchten absoluten Geltung, deckt inhaltliche Entsprechungen zwischen diesen Universalien und den jeweiligen Kontexten ihrer Setzung auf. Diese inhaltlichen Entsprechungen müssen sich dem Bewusstsein verbergen, um die Funktionalität seiner kategorialen Setzungen zu sichern. Zu ihnen gibt es keine Alternativen, sondern nur eine Abfolge funktionaler Ersatzbildungen“ (Bialas 2005: 110).

  52. 52.

    Womit der Mensch zugleich auch ein reflexives Verhältnis zu seinem Verstehen gewinnt. Dieses Verstehen des Verstehens wird zu einer menschlichen Seinsweise, insofern er das Wissen um die Vermitteltheit des Verstehens ebenso wie das Wissen um die Bedingtheiten (gesellschaftlicher, historischer und kontextualistischer Art) des Verstehens in seinen Verstehensprozess mit aufnimmt (vgl. Kämpf 2006: 250). Dabei ist jedoch nicht zu schlussfolgern, dass die Einsicht in die Bedingtheiten des Verstehens zu deren Aufhebung führen und quasi ein neutrales, objektives oder ungebundenes Verstehen ermöglichen (ebd.).

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Marc Weiland .

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2019 Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature

About this chapter

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this chapter

Weiland, M. (2019). Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie. In: Mensch und Erzählung. Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature, vol 9. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04903-2_3

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-04903-2_3

  • Published:

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-04902-5

  • Online ISBN: 978-3-476-04903-2

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

Publish with us

Policies and ethics