Zusammenfassung
Individualpsychologische Spekulationen im Alltag wie in der Literaturwissenschaft tendieren dazu, bei der Ursachenforschung menschlichen Handelns vorrangig die Persönlichkeit der handelnden Person heranzuziehen, unterschätzen dabei jedoch meist den situationalen Kontext, in der diese sich befindet. Die Entdeckung dieses »fundamentale[n] Attributionsfehlers« zählt zu den großen Errungenschaften der Sozialpsychologie, da sie uns aufzeigt, dass es meist nicht (wie von uns angenommen) die dispositionalen Persönlichkeitsaspekte des Individuums sind, die zu einem bestimmten Verhalten führen, sondern dass es vorrangig die Umstände der jeweiligen Situation sind, die Menschen in ihrem Tun determinieren. Eindrucksvoll konnte dies etwa in den Milgram-Experimenten belegt werden, in denen zufällig ausgewählte Versuchsteilnehmer innerhalb kurzer Zeit bereit waren, nur aufgrund der Anweisung einer Autoritätsperson einem anderen Menschen (vermeintlich) tödliche Stromschläge zu verabreichen. Im Stanford-Prison-Experiment wurden psychologisch völlig unauffällige Studierende zu sadistischen Kerkermeistern gegenüber ihren Kommiliton_innen, weshalb das Experiment bereits nach wenigen Tagen abgebrochen werden musste. Warum sollte es daher nicht auch möglich sein, dass sich durch den entsprechenden situationalen Kontext ein wohlhabender, sittenstrenger und gläubiger Pferdehändler aus Kohlhaasenbrück nach und nach zum »entsetzlichen Wüterich« (DKV III, 68) und gefürchteten »Würgengel« (DKV III, 87) wandelt? Dieser Beitrag ist der Frage gewidmet, wie das Eskalationsmuster der Überkompensation von erlittenem Schaden zur Wiederherstellung des eigenen Selbstkonzepts die Psycho-Logik hinter den (auf den ersten Blick nicht immer nachvollziehbaren) Handlungen der Figuren in ›Michael Kohlhaas‹ erhellen kann.
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Ackerl, M. (2018). Kleists Modell der Eskalation. In: Allerkamp, A., Blamberger, G., Fleig, A., Gribnitz, B., Lund, H.L., Roussel, M. (eds) Kleist-Jahrbuch 2018. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04668-0_16
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-04668-0_16
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-04667-3
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