Zusammenfassung
„Gewußt habe ich, daß dieses Leben ein Gefängnis ist …“,1 schreibt Emmy Hennings 1918 an Hugo Ball, dem politischen Aufbruch und Enthusiasmus des Mannes bei Kriegsende mit Vorsicht und Skepsis begegnend. Ihre Briefe sind im Ton oft gedrückter als ihr Buch „Gefängnis“, das sie zu eben dieser Zeit fertigstellt und das den politischen Umbruch in ganz eigener Weise aufnimmt. Ball hält solche Spannung ihr vor, indem er gegen eine im Alltag geäußerte allgemein menschliche Haltung die literarisch zum Ausdruck gebrachte Anklage und Parteinahme gegen die bestehende Gesellschaftsordnung positiv abgrenzt. Er würdigt „Gefängnis“, erkennt die Wahrheit des Buches darin, daß eindringlich gelungen sei, „die trostlose Härte des Sadismus“ darzustellen.2 Nach Balls Ansicht ruft Hennings hier mitnichten zum Ausgleich auf, geht vielmehr zum Angriff über. „Dein ‚Gefängnis‘ ist aggressiv, da gibt es keine Mißverständnisse. Das ist nicht ‚Gütepartei‘“3 Ein politisches Buch ist „Gefängnis“ von Emmy Hennings in der Tat zu nennen.
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Literatur
Vgl. Emmy Hennings, Gefängnis, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1985, z.B. S. 47–58. Die Autorin hat ihren Gefangnisbericht später noch einmal bearbeitet. Von 1930 liegt ein unveröffentlichtes Typoskript vor unter dem Titel „Das Haus im Schatten. Eine Erzählung aus dem Gefängnis“. Eine Interpretation gibt: Sabine Werner Birkenbach, Emmy Hennings. Eine Frau schreibt Gefängnisliteratur, in: Hugo-Ball-Almanach, 20. Folge, Pirmasens 1996
Fest verwurzelt im politischen Denken vor 1914 war die Vorstellung von der „Männlichkeit“ des Krieges. Der Sozialdarwinismus beförderte ein Geschlechterbild, das Aggression und Herrschaft mit Männlichkeit gleichsetzte und auf das der in der Epoche eskalierende Militarismus sich bezog. Vgl. zu Geschlechterdifferenz und Krieg: Sybil Oldfield, Frauen gegen den Krieg, Frankfurt a. M. 1992, S. 13–26. Ball demontiert solche Denkmuster, doch muß für Hennings Distanz bleiben, da ihre Auseinandersetzung aus einer anderen, von den Opfern aus bezogenen Position erfolgt.
Vgl. Jost Dülfer/Karl Holl (Hrsg.), Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Göttingen 1986, darin der Beitrag von Dülfer, der einen Überblick über Erklärungsansätze zum Ersten Weltkrieg gibt, bes. S. 11
Dazu, daß im Verlauf des Krieges der heroische Ton sich abschwächt und die Zurückhaltung wächst, vgl.: Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie 1870–1918, München 1974, S. 58,71
Vgl. Karin Bruns, Das moderne Kriegsweib. Mythos und nationales Stereotyp heroischer Weiblichkeit 1890–1914. in: Argument Sonderband 172/173, Frauen — Literatur — Politik, Hamburg 1988, S. 132–140
Vgl. Siegfried Kracauer, Die Angestellten, Frankfurt a. M. 1980, S. 16: „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie entstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.“
Vgl. Emmy Hennings, Gefängnis, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1985, S. 92 (im Folgenden kurz: Gefängnis)
Daß Alltagskriminalität behandelt wird, unterstreicht den Gesellschaftsbezug des Berichts. Vgl. dazu auch: Dirk Blasius, Kriminalität und Alltag. Zur Konfliktgeschichte des Alltagslebens im 19. Jahrhundert, Göttingen 1978, S. 5. In Not bringt gerade der Krieg die Bevölkerung, und sie trifft auch Emmy Hennings schwer im Schweizer Exil, wo sie in bitterster Armut mit dem Gefährten und der Tochter leben muß. Der Krieg holt die Emigranten ein, denn im Exilland sind sie eingeschränkt in ihrer Arbeitsmöglichkeit und Bewegungsfreiheit. Vgl. Emmy Ball-Hennings, wie Ein. Anm. 3, S. 38.44
Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1992, S. 295–297
Zur Bestimmung des Widerstands als Zurückweisung von Rollenerwartungen vgl. Bettina Heintz/Claudia Honegger(Hrsg.), Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen, Frankfurt a. M. 1984, S. 9/10
Zur Bestimmung des Widerstands als Zurückweisung von Rollenerwartungen vgl. Bettina Heintz/Claudia Honegger(Hrsg.), Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen, Frankfurt a. M. 1984, S. 9/10
Zur Problematik und Aktualität des Schauspiels vgl: Ernst Schürer, Die „Gas“-Dramen, in: Armin Arnold (Hrsg.), Georg Kaiser, Stuttgart 1980, bes. S. 92–92. Außerdem: Günther Rühle, Theater der Republik. Im Spiegel der Kritik, Frankfurt a. M. 1988, 1. Bd. 1917–1925, S.125,127
Diesen Vergleich führen an: Werner Abelshauser/ Anselm Faust/ Dietmar Petzina, Deutsche Sozialgeschichte — Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914–1945, München 1985, S. 215
Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918, Göttingen 1978, S. 34
Michel Foucault erschließt den historischen Zugang zur Strafe als einer sozialen Erscheinung nicht über die Analyse der Strafrechtsnormen, sondern über die Analyse des Vorgangs der Bestrafung. Im Zentrum steht die neue Disziplinierungstechnik, die auf eine neue Ordnung deutet. Eine andere Betrachtung ist die, vom „sozialen Leben“ aus das Gefängnis zu inspizieren. Aus dieser Perspektive erscheint die Gesellschaft nicht als Einheit, werden soziale Konflikte im Hintergrund wahrnehmbar. Vgl. zu dieser von Foucault diffe-renten Betrachtung die Arbeit über die Theorie Emile Durkheims von: Werner Gephart, Verbrechen und Strafe, Opladen 1990, S. 136, 179
Vgl. Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hrsg. von Paul Raabe, Frankfurt a. M. 1992, S. 100–103, 107–108
Eine Analyse und Kritik der Macht- und Gesellschaftstheorie Michel Foucaults unter besonderer Bezugnahme auf die von Adorno und Horkheimer entwickelte Dialektik der Aufklärung leistet: Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1989, S. 194–195, 222–223. Honneth macht Foucault den Vorwurf, bei der gesellschaftstheoretischen Bestimmung der Eigenart moderner Machttechniken die reduktionistische Vorstellung einer einseitigen Zwangsherrschaft zu verfolgen.
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Süllwold, E. (1999). Krieg als Verbrechen — Emmy Hennings’ Auseinandersetzung mit der Logik maschineller Gewalt. In: Das gezeichnete und ausgezeichnete Subjekt. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04309-2_5
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