Zusammenfassung
„Incest is a very poetical circumstance.” Diese provozierende Behauptung, die Mary Shelleys Ehemann Percy Bysshe Shelley zugeschrieben wird,1 stellt eine doppelte Grenzverletzung dar: Sie erhebt nicht nur eines der grundlegenden sexuellen Tabus offensiv zum literarischen sujet, sondern gesteht ihm darüber hinaus auch eigene ästhetische Qualitäten zu, die eine dichterische Bearbeitung geradezu fordern. Worin aber besteht das ,Poetische6 des Inzests? Mary Shelleys Erzählung Mathilda,2 die 1819 geschrieben, aber erst 140 Jahre später veröffentlicht wurde und im Vergleich zu ihrem Frankenstein in der Forschung nach wie vor wenig Beachtung findet,3 läßt sich — wie ich im folgenden zeigen möchte — als faszinierende Antwort auf diese Frage lesen.
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Notizen
Zitiert nach: Medwin, Thomas: The Life of Percy Bysshe Shelley (1847). London 1913, S. 252.
Shelley, Mary: Matilda. In: The Novels and Selected Works of Mary Shelley, Bd. II. Hg. v. Nora Crook u. Pamela Clemit. London 1996, S. 1–67. Alle Zitate aus der Erzählung folgen dieser Ausgabe. Obwohl Crook und Clemit Shelleys uneinheitliche Schreibweise übernehmen und den Namen der Protagonistin („Mathilda“) vom Titel der Erzählung („Matilda“) absetzen, verwende ich in beiden Fällen die auch in anderen Shelley-Ausgaben gebräuchliche Variante mit „h“ (Mathilda bzw. Mathilda).
Nitchie, Elizabeth: Mary Shelley’s, Mathilda’: An Unpublished Story And Its Biographical Significance. In: Studies in Philology XL, Nr. 3 (July 1943), S. 447–462. Zur Kritik an dieser biographischen Rekonstruktion vgl. Rajan, Tilottama: Mary Shelley’s ‘Mathilda’: Melancholy and the Political Economy of Romanticism. In: Studies in the Novel XXVI, Nr. 2 (1994), S. 43–68.
Frauen als das schwache und durch Phantasien erregbarere Geschlecht gelten traditionell als besonders gefährdet Ein Mädchen, das die Nouvelle Héloïse lese, verliere notwendig seine Keuschheit, dürfe dafür aber nicht den Roman, sondern nur seine eigene Neugierde verantwortlich machen — so die doppelsinnige Warnung in Rousseau, Jean-Jacques: Julie ou La Nouvelle Héloïse. In: ders.: Œuvres complètes Bd. II. Hg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris 1964, S. 6. Zur Geschichte des Lesens und seiner Gefahren vgl. Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987.
Vgl. die Klopstockbegeisterung von Werther und Lotte und deren Folgen. Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werther. In: ders.: Werke, Hamburger Ausgabe Bd. VI. Hg. v. Erich Trunz. München 1988, S. 27.
Vgl. Dante Alighieri: La Commedia 2: Inferno. In: ders.: Opere Bd. VII. Verona 1966, S. 93f. Zur Bedeutung dieser Passage für den Topos vom Buch als, Kuppler’ vgl. Wuthenow, Ralph-Rainer: Im Buch die Bücher oder Der Held als Leser. Frankfurt/M. 1980, S. 21–25, hier S. 23.
Als, Familienroman“ bezeichnet Freud Phantasien, mit deren Hilfe das Subjekt seine verwandtschaftlichen Beziehungen imaginär verändert, um seine inszestuösen Wünsche zu befriedigen. Vgl. Freud, Sigmund: Der Familienroman der Neurotiker. In: ders.: Studienausgabe Bd. IV: Psychologische Schriften. Frankfurt/M. 1970, S. 221–226.
Mary Shelley war der Meinung, eine Verjüngung des Vaters vergrößere die poetische bzw. dramatische Wahrscheinlichkeit inzestuöser Liebe. In ihrem Beitrag für die Enzyklopädie Lives of the Most Eminent Literary and Scientific Men of Italy, Spain, and Portugal (1835–1837) heißt es: „To shed any interest over such an attachment, the dramatist ought to adorn the father with such youthful attributes as would be by no means contrary to probability.“ Zitiert nach Shelley, Mary Wollstonecraft: Mathilda. Hg. v. Elizabeth Nitchie. In: Studies in Philology extra Series Nr. 3 (Oktober 1959), S. xiv.
Vgl. Lynda E.: The Father’s House and the Daughter in It: The Structures of Western Culture’s Daughter-Father-Relationship. In: dies. u. Betty Flowers (Hg.): Daughters and Fathers. Baltimore, London 1989, S. 19–74.
Charlene E. Bunnell hat überzeugend gezeigt, daß sich Struktur und Sprache von Mathilda an dramatischen Vorbildern orientieren. So übernimmt die Protagonistin und Erzählerin in mehrfacher Selbstinszenierung nacheinander die Rollen einer Schauspielerin, Dramaturgin und Bühnenautorin. Selbst der Aufbau der gesamten Erzählung folgt dem Modell einer Tragödie in fünf Akten. Bunnells Einschätzung, mit der melodramatischen Heldin Mathilda habe Shelley in erster Linie vor der Verwechslung von Kunst und Leben warnen wollen, teile ich allerdings nicht. Vgl. Bunnel, Charlene E.: »Mathilda’: Mary Shelley’s Romantic Tragedy. In: Keats-Shelley Journal XLVI (1997), S. 75–96.
Alfieri, Vittorio: Mirra. In: ders.: Opere, edizione critica Bd. XVIII. Asti 1974, S. 95.
Mary Shelley, die als Autorin des Frankenstein mit dieser Konvention vertraut gewesen sein dürfte, verschiebt in Mathilda, das Unaussprechliche’ auf eine andere Form illegitimer Sexualität, die ebenfalls zum Repertoire der Schauerromantik gehört. Zur Homosexualität als „love that dare not speak its name“ vgl. Sedgwick, Eve Kosofsky: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. New York 1985, S. 94f.
Vgl. auch Susan Allen Fords Argumentation, Mathilda entfalte wie einige andere Inzest-Erzählungen der englischen Romantik „a rhetoric of incest that develops through spatialization as well as through the suppression of speech“. Ford, Susan Allen: „A name more dear“: Daughters, Fathers, and Desire in, A Simple Story‘,, The False Friend’, and, Mathilda‘. In: Revisioning Romanticism: British Women Writers, 1776–1837. Hg. v. Carol Shiner Wilson u. Joel Haefner. Philadelphia 1994, S. 50.
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Krüger-Fürhoff, I.M. (1999). Gefährliche Lektüren. Inzest als literarischer Grenzgang in Mary Shelleys Mathilda. In: Benthien, C., Krüger-Fürhoff, I.M. (eds) Über Grenzen. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04301-6_3
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