Zusammenfassung
Im Herbst 1914 an der Ostfront hockt der gelernte Flugzeugingenieur Ludwig Wittgenstein über einer Zeitschrift, die sich mit einem Verkehrsunfall beschäftigt. Dieser hatte sich ein Jahr zuvor in Paris ereignet und war nun vor dem Gericht in Form eines Miniaturmodells nachgestellt worden, um die Kausalität der Ereignisfolge zu rekonstruieren. Spielzeughäuser, ein Spielzeuglastwagen, ein Miniaturkinderwagen und ein Satz kleiner Figuren bildeten das tatsächliche Geschehen stellvertretend ab und veranschaulichten so den realen Hergang des Unfalls.1 Um eine solche Bildfunktion zu gewährleisten, überlegte Wittgenstein, hatte das Modell zumindest zwei Voraussetzungen zu erfüllen: die einzelnen Miniaturfiguren müssen der Realität entsprechen, welche sie repräsentieren, sie müssen die Elemente dieser Realität abbilden; und sie müssen zweitens in einer bestimmten Beziehung zueinander arrangiert sein, die mit der Beziehung der tatsächlichen Begebenheiten untereinander übereinstimmt. Die abbildende Funktion bezieht sich also einmal auf die einzelnen Elemente des Modells selbst, die jenen der Wirklichkeit entsprechen und zum anderen auf die Übereinstimmung der Relationen zwischen diesen Elementen, das heißt, ihrer isomorphen Struktur. Die Folgen dieser Analyse für die Modellbildung einer spekulativen Sprachlogik des frühen Wittgenstein sind bekannt. Die Welt, “alles, was der Fall ist”, ist ontologisch determiniert und kann zulänglich erfaßt werden, wenn es der nach logischen Regeln zusammengesetzten Sprache gelingt, die reale Struktur abzubilden.
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Endnotes
Zur Interpretation des Eingangskapitels des MoE vgl. u.a. B. Allemann (1956): Ironie und Dichtung, S.177ff; H.Honold (1963): Die Funktion des Paradoxen bei Robert Musil, S.84ff; V.Klotz (1965): Muse und Helios, S.28ff; W.Rasch (1967): DMoE. Eine Interpretation des Romans, S.103ff; USchramm (1967): Fiktion und Reflexion, S.13ff; H.Steeger (1967): Literatursprache und Wirklichkeit, S.70ff; H.Arntzen (1968): Seufzer zur Musil-Forschung, S.70ff; H.Arntzen (1982): Musil-Kommentar zum Roman DMoE, S.81ff; G.Graf (1969): Studien zur Funktion des ersten Kapitels von Robert Musils MoE; B.-R.Hüppauf (1971): Von sozialer Utopie zur Mystik, S.90ff; D.Hochstätter (1972): Sprache des Möglichen, S.4ff; M.Schrader (1975): Mimesis und Poeisis. Poetologische Studien zum Bildungsroman und zu Robert Musils DMoE, S.156ff; D.Dawlianidse (1978): Der offene Romananfang. Am Beispiel des ersten Kapitels von R.Musils Roman DMoE; W.Feld (1978): Funktionale Satire durch Zitieren in Robert Musils Roman DMoE, S.151ff; D.Fuder (1979): Analogiedenken und anthropologische Differenz, S.54ff; W.Krysinski (1980): Musil versus Scarron oder die Unbestimmtheit des Romanesken.
Ausführlichste und eingängigste Untersuchung der Geschichte des Romananfangs vgl. weiterhin: N. Miller (Hrsg.) (1965): Roman-Anfänge.
Zur Tradition narrativer Eingangsformeln, vgl. V.Klotz (1965): Muse und Helios.
W.Iser (1991): Das Fiktive und das Imaginäre, S.101.
P.Sloterdijk (1988): Zur Welt kommen — Zur Sprache kommen, S.46.
Gemeint sind Romananfänge, bei denen eine Einleitung von wissenschaftlich-metaphysischem Fortschrittspathos die nachfolgende Handlung hypertrophiert. Für V.Klotz (1965): Muse und Helios, ist gerade die Parodie und Dienstbarmachung solcher Anfänge “selbstbewußter technischer Zeitgenossenschaft” die zentrale Negativfolie, vor der sich der meteorologische Eingang des MoE kontrastierend und ironisierend abzuheben versuche.
Zu Theorie und Terminologie vgl. W.Iser (1976): Der Akt des Lesens.
Vgl. P.de Man (1993): Die Ideologie des Ästhetischen; vor allem aber P.de Man (1988): Allegorien des Lesens.
R.Barthes (1984): Die Lust am Text, S.16.
T.W.Adorno (1961): Versuch, das Endspiel zu verstehen, S.214.
Zur Funktion des Wetters im Roman des 19.Jhs. vgl. F.C.Delius (1971): Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus.
Zu Musil und Scarron vgl. V.Klotz (1965): Muse und Helios; sowie W.Krysinski (1980): Musil versus Scarron.
Vgl. M.Schrader (1975): Mimesis und Poeisis, S.161f.
Eine besondere Note erhält das Nichtwissen des Erzählers bezüglich der eingeführten Personen noch dadurch, daß, wie W.Bausinger (1962): Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Robert Musils Roman DMoE, zu entnehmen ist, Musils ursprüngliche Fassung des Kapitels tatsachlich noch das Auftreten von Amheim und E.Tuzzi vorsah. Erst in der Reinschrift wurden die Identitätsangaben verschleiert und statt dessen mit den Städtenamen Bad Aussee und Konstantinopel Konnotationen erzeugt, die gemeinsam mit den anachronistisch anmutenden Namen Dr.Amheim und Ermelinda Tuzzi die Figuren eher als solche eines Romans des 19.Jhs. denn als Passanten in der Großstadt des 20.Jhs.erscheinen lassen.
Die Zahl der Verkehrstoten, die spater aus den amerikanischen Straßenverkehrsstatisken zitiert wird, ist, wie H.Arntzen (1982): Musil-Kommentar…, feststellt, diejenige aus dem Jahr 1924. Bei Reinschrift und Umarbeitung des Eingangskapitels im Januar 1929 lebte Musil in Berlin, und tatsächlich scheint der geschilderte Straßenverkehr eher demjenigen Berlins von 1929 als dem von Wien 1913 zu entsprechen.
K.H.Bohrer (1981): Plötzlichkeit, S.43.
Ebd. S.10.
Vgl. K.H.Bohrer (1981): Plötzlichkeit, S.46 und S.49.
Musils Interesse an der Unmittelbarkeit des Unfalls und seiner sowohl emotionalen wie begrifflichen Uneinholbarkeit wird auch bei einem vergleichbaren ‘Unfall’ deutlich, der in der Kurzerzählung „ Ausgebrochener Augenblick” geschildert ist. Während eines ordnungsgemäß verlaufenden Gerichtsprozesses an einem “Junitag”; “hochbeladen mit Hitze” (GW2/651), geschieht plötzlich eine überraschende Bluttat: “Und gerade da springt der Augenblick aus der Reihe, brechen sechs Augenblicke, sechs Schüsse aus. Ein wirbelndes Zeitstück. Niemand weiß mehr, wie es sich losgerissen hat, nachdem es vorbei ist“(GW/653). Sowohl der Attentäter wie das Opfer werden zunächst gar nicht genannt. Das Ereignis steht isoliert und unbegreifbar im Raum. Wie im Eingangskapitel des MoE ist auch hier — in diesem offensichtlich in Analogie zu der Metapher vom ‘Ausbruch’ des ersten Weltkrieges (28.Juni 1914: Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajevo) angelegten Kurztext — der ‘Unfall’ ein die Kontinuität der Zeit erschüttemdes Ereignis, dessen eruptive Plötzlichkeits-Struktur jedwede Möglichkeit seiner Verarbeitung verhindert.
Dabei scheint es allerdings wenig sinnvoll zu sein, der eigentümlichen Definition de Mans, der Metapher eine Art Notwendigkeits-Vorrang vor der Metonymie zuzusprechen, zu folgen. Vgl. P.de Man (1988): Allegorien des Lesens, S. 45f. und 96ff., wo es ohne weitere Begründung heißt, daß “die Metonymie sich von der Metapher unterscheidet wie Notwendigkeit von Kontingenz”. Soweit mir bekannt gibt es keine einzige semantische, semiotische, strukturalistische und auch keine rhetorische Definition der Metapher, die den Verweisungscharakter des metaphorischen Zeichens als einem notwendigen, gegenüber der Zufälligkeit der Metonymie behauptete. Naheliegender scheint eher die in strukturalistischen Theorien etwa bei Jakobson, Greimas und Stierle herausgearbeitete stärkere Notwendigkeitsrelation des horizontalen metonymischen gegenüber dem vertikal metaphorischen Verweisungszusammenhang zu sein.
H.Blumenberg (1964): Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S.24.
Zum ‘Fiktionalitätskontrakt’ vgl. R.Warning (1983): Der inszenierte Diskurs.
N.Miller (1965): Roman-Anfänge, S.8.
Vgl. M.M.Bachtin (1979): Die Ästhetik des Wortes.
Zur Kritik an der totalisierenden definitiven Festschreibung der figuralen Analyse de Mans vgl. u.a. J.Nieraad (1988): Du sollst nicht deuten. Neo-Avantgarde, Dekonstruktivismus und Interpretation im Rückblick; H.Müller (1988): Kleist, Paul de Man und Deconstruction; H.Müller (1990): Zur Kritik herkömmlicher Hermeneutikkonzeptionen in der Postmodeme; H.Müller (1993): Hermeneutik oder Dekonstruktion? Zum Widerstreit zweier Interpretationsweisen; J.Fohrmann (1993): Misreading revisited.
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Precht, R.D. (1996). Die verunglückte Gegenwart: Möglichkeiten und Grenzen bei der Lektüre des Eingangskapitels. In: Die gleitende Logik der Seele. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04247-7_2
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