Zusammenfassung
Wir haben oben darauf hingewiesen, daß keine Textgattung so wie das Drama die Spuren des medienhistorischen Überganges von der Oralität zur Literalität in sich trägt. 1 Wir haben zu illustrieren versucht, inwiefern sich bis in die gegenwärtigen gegenstandstheoretischen Auseinandersetzungen um die Natur des Dramas die Herkunft dieser Textgattung aus dem Übergangsfeld von Oralität und Literalität in der für das Drama charakteristischen Spannung von Text und Applikation zur Geltung bringt. Der hier intendierte Versuch, die medienhistorischen Voraussetzungen zu klären, aus denen sich das Drama als Textgattung herausgebildet und in seiner spezifischen Struktur entfaltet hat, setzt also — nach der Skizzierung der Oralität als heuristischem Horizont des Literalisierungsprozesses — eine genauere Rekonstruktion der systemischen Stadien voraus, die das OralitätsLiteralitäts-Übergangsfeld charakterisieren. Als die beiden wesentlichen Übergangsstadien zur entfalteten Literalität haben wir bereits zu Beginn unserer Untersuchung die Stadien der begrenzten Literalität und der Hypoliteralität hervorgehoben.2 Diese sollen nun im folgenden näher betrachtet werden, wobei unser erstes Augenmerk der begrenzten Literalität gilt.
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Endnoten
Vgl. Assmann (1992a), 87 ff, hier: 93. Wir verwenden die Termini »rituel1e« und »textuelle Kohärenz« im folgenden im Sinne Assmanns und ohne weitere diakritische Auszeichnung.
Vgl. Assmann (1992b), 1417 – 1431. Wir können in diesem Zusammenhang nicht ausführlicher auf die Leistungen der Alphabetschrift eingehen und begnügen uns daher mit folgendem Überblick: Die Alphabetschrift entwickelte sich während des Zeitraums zwischen 1500 und 800 vor Christus. In ihren ersten Anfängen entsteht sie im Sinai, wo sich Nomaden aus einzelnen Hieroglyphen ein Alphabet zusammengestellt hatten. Dieses Alphabet folgte dem Prinzip der Akrophonie, d.h. das Zeichen bezeichnet nicht das Wort, dessen Bedeutung es abbildet, sondern dessen Anfangslaut. Die ‘Protosinaitische’ Schrift übernimmt von den Hieroglyphen das Prinzip der reinen Konsonantenschreibung, wodurch die Vokalisation und damit die grammatische Konstruktion aus dem Kontext dem Leser überlassen bleibt. Das hat zur Konsequenz, daß die auf die Vokalschreibung verzichtende Schrift für all diejenigen, die der Sprache unkundig sind, nicht lesbar ist. Die Griechen, die die Schrift im 9. oder 8. Jahrhundert von den Phöniziern übernehmen, führen, da sie die Schrift der veränderten Sprachstruktur anpassen, Vokalzeichen ein. So entsteht eine Alphabetschrift, die zur Wiedergabe beliebiger Sprachen eingesetzt werden kann. Wenn Ong (1987), 89 f und 93 in der Alphabetschrift die Voraussetzung zur “Demokratisierung des Wissens” erkennt, dann liegt das also nicht daran, daß die Konsonanten-, Silben-, Wort- und Hieroglyphenschriften des Orients hinsichtlich ihrer Wiedergabekapazität nicht genauso leistungsfähig gewesen wären wie vokalisierte Alphabetschriften, sondern daran, daß sie schwieriger lernbar und weniger auf andere Sprachen übertragbar waren. Vgl. hierzu auch Maas (1985), 56, der darauf aufmerksam macht, daß die Potentiale der Alphabetschrift jedoch “durch eine gesellschaftliche Praxis beschränkt (blieben), die in der Form die alten Muster fortführte.”
Leroi-Gourhan (1980), 325. Vgl hierzu auch Gumbrecht/Pfeiffer (1988)
Zum Terminus »begrenzte Literalität« vgl. Goody (1986), 30, sowie Kap. 1, S. 7 dieser Arbeit. Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen: Wir verwenden den Terminus im Sinne Goodys und nicht etwa in dem Rörigs (1953), 28 – 41. In engem Anschluß an Pirenne (1929) hatte dieser — bezogen auf das 12./13. Jahrhundert — von einem “Einbruch des Kaufmanns in das Schriftmonopol des Klerus” gesprochen und darin eine entscheidende Wende von der “begrenzten Schriftlichkeit” des “eigentlichen Mittelalters” zu neuzeitlichen Entwicklung “allgemeiner Schriftlichkeit” gesehen. Indem Rörig davon ausgeht, die bürgerlichen Oberschichten könnten als “Bahnbrecher” der “Erringung der Laienschriftlichkeit” gelten, präfe-riert er ein quasi saltationistisches Modell des Medienwechsels zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, das — wie unsere folgenden Ausführungen zeigen werden — so nicht aufrecht erhalten werden kann.
Den Terminus »Bimedialität« übernehmen wir von Giesecke (1994), 30. Zur diakritischen Auszeichnung und zur Einführung des Terminus vgl. Kap. 1, S. 10 dieser Arbeit.
Havelock (1963), XI, zitiert nach Goody/Watt (1986), 29
Giesecke (1994), 30: “Die Rede von literaten Kulturen ist eine ideologische Beschreibung, die von der modernen Forschung oft zu unkritisch übernommen wird. Goody und Watt und viele andere formulieren viel zu schwach, wenn sie sagen, die Schrift sei in vielen Kulturen nicht als ein ‘autonomes und unabhängiges Medium der Kommunikation’, sondern als Gedächtnisstütze gebraucht worden. Wenn die skriptographischen Medien tatsächlich über den Status der Protoschriften (…) hinauslangten, so wurden sie als Verstärker der oralen Informationsverarbeitung und — verbreitung eingesetzt.”
Zum Problem des »mehrfachen Schriftsinns« vgl. Meyer (1992), 1431 – 1439. Es würde den Gegenstandsbereich dieser Arbeit sprengen, wollten wir uns mit den literalen Interpretationsprozessen auseinandersetzen, mit deren Hilfe der Klerus den ihm kosmologisch feststehenden Sinn der Heiligen Schriften immer wieder aufs Neue realisierte. Erinnern wollen wir gleichwohl an die Lehre vom mehrfachen (zunächst drei- dann vierfachen) Schriftsinn als dem wohl wirkungsvollsten Mittel klerikaler Deutung. Bereits die Kirchenväter gehen davon aus, daß ein Text vielfach interpretiert werden kann, und so sprechen Augustinus und Gregor der Große dann auch von den ‘multae intelligentiae’ oder ‘innumeri intellectus’ namentlich dunklerer Texte. Der Begründer der Patristik, Origines, unterschied neben dem ‘Wortsinn’ bereits einen ‘moralischen Sinn’, der nach den Handlungs- und Verhaltenskonsequenzen des Textes für den Leser fragt. Der ‘allegorische’ sowie der später hinzukommende ‘anagogische Sinn’ setzen sich mit Fragen der Heilskonsequenzen auseinander. Die vier Schriftsinne existieren nicht unabhängig voneinander, sondern stets aufeinander bezogen, wie das folgende, bei Mayer (1992), 1434 abgedruckte Distichon aus dem 13. Jahrhundert verdeutlicht: “Der buchstäbliche Sinn lehrt, was geschehen ist; der allegorische, was man glauben soll; der moralische, was man tun soll; der anagogische, wohin man streben soll.”
Assmann (1992a), 118. Hierin liegt ein genereller Unterschied zwischen Judentum und Christenum: Für das Judentum ist die Kategorie der »Verbalinspiration« entscheidend und die Schrift selbst ist die Offenbarung.
Dienst (1960), 890; allerdings wurde (und wird) der rituelle Verlauf anlaßspezifisch variiert.
Goldschmidt (1943), 89; übersetzt von und zitiert nach Giesecke (1994), 317 ff
Ehlich (1983), der das “Boteninstitut” als Urszene des Textes bestimmt.
Die Begriffe “skriptographisches Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis” werden von Giesecke (1994), 313 in die Diskussion eingeführt; wir verwenden diese Begriffe im folgenden ohne weitere diakritische Auszeichnung.
Lütcke, Lemma ‘auctoritas’ in Augustinus-Lezikon (1990), 499. Darin, daß mit Hilfe der ‘auctoritas’, besonders der ‘auctoritas Christi’, die Lehre an das breite Volk vermittelt werden kann, erkennt Augustinus die Überlegenheit des Christenturns etwa gegenüber dem Platonismus, der nur auf den kleinen Kreis der Eingeweihten beschränkt blieb.
Vgl. Wienbruch, Lemma ‘auditus’ im Augustinus-Lexikon (1990), 518
vgl. Wienbruch, Lemma ‘auditus’ im Augustinus-Lexikon (1990), 515
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Epping-Jäger, C. (1996). Begrenzte Literalität. In: Die Inszenierung der Schrift. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04245-3_3
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