Zum Selbstverständnis der Photographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Zusammenfassung

Moralität und Fotografie aufeinander zu beziehen, erscheint auf den ersten Blick abwegig. Daß indes moralisches Verhalten und fotografische Aktivität nicht als zwei gänzlich isolierte Bereiche menschlichen Handelns angesehen werden dürfen, erscheint zumindest für das 19. Jahrhundert gerechtfertigt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die junge Fotografie sich in der zweiten Jahrhunderthälfte als Massenmedium durchsetzt. Damals bestimmte sie viele Bereiche des öffentlichen Lebens in einer so nachhaltigen Weise, wie das heute kaum mehr vorstellbar ist. Sogar die Hüterin der Moral par excellence, die Katholische Kirche, sah sich herausgefordert, zu der umwälzenden Erfindung Stellung zu beziehen: Der Kardinal und spätere Papst Leo XIII², würdigte 1867 die Fotografie in einem enkomiastischen Gedicht; in lateinischer Sprache, wie sich das für einen Purpurträger gehörte, feierte er die Ars photographica und veröffentlichte diesen Hymnus später auch mit der Autorität eines Pontifex Maximus.³ Auf dieses interessante Dokument werde ich noch zurückkommen.

»Qui estce qui connaît les qualités bien ou malfaisantes de ces simulacres? Personne. Mais il est bien démontré par l’expérience qu’ils ne sont pas tous innocents.«¹