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Anthropomorphismus

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Das Genie des Herzens
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Zusammenfassung

Die »Störungen« des Denkens begrüßend, setzt Nietzsche einmal mehr auf das Spannungsfeld von Situation und Reflexion, aus dem der aphoristische Erkenntnisfunke springt. Das fuhrt auf den Ausgangspunkt unseres Vergleichs zwischen der Aphoristik Nietzsches und der »transzendentalen Moralistik« zurück. Ausgehend von der Idee der kopernikanischen Wende — so hatten wir im Anschluß an Gerhard Neumann gezeigt — entwickeln Lichtenberg und seine Nachfolger den Aphorismus als eine Denkform, die kontrastierende Ordnungsformen in fortgesetzten Umkehrbewegungen gegeneinander ausspielt: sinnliche Anschauung und logisches Kalkül, Kunst und Wissenschaft, Satz und Buch, Einzelnes und Allgemeines. Als Modell festgehaltener Differenz entwirft der Aphorismus zugleich ein bestimmtes Menschenbild. In der Aphoristik Lichtenbergs und Goethes verweist darauf der Begriff des Anthropomorphismus.1 Dieser bezeichnet nicht die humanistische Selbstglorifizierung des Subjekts in seinen eigenen Werken und Taten, sondern eine doppeldeutige Reflexionsfigur: hier schlägt die Reflexion auf die perspektivische Bedingtheit der menschlichen Weltaneignung um in die Erkenntnis, daß die sogenannte menschliche Natur ein Schnittpunkt anderer, außermenschlicher Kräfte ist.

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Notizen

  1. Lichtenberg: »Es ist gar nicht abzusehen, wie weit sich Anthropomorphismus erstrecken kann, das Wort in seinem größten Umfang genommen. « (Schriften und Briefe, a. a. O., Bd. II, S. 413 (Heft K 83). — Goethe: »Der Mensch begreift niemals wie anthropomorphisch er ist.« (H 203) Wir zitieren Goethes Maximen und Reflexionen nach der Ausgabe von Max Hecker und weisen die Zitate im Text unter der Sigel H mit der Angabe der Heckerschen Numerierung nach. Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen. Text der Ausgabe von 1907 mit den Erläuterungen und der Einleitung Max Heckers. Frankfurt a. M., 1976.

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  2. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Stuttgart, 1960 ff. Hier: Bd. II, S. 286.

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  3. Friedrich Schlegel: 1779–1802. Seine prosaischen Jugendschriften. Hrsg. von Jakob Minor. 2 Bde., Wien, 1882, Bd. 1, S. 96.

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  4. Gerhart Baumann: Maxime und Refexion als Stilform bei Goethe. Karlsruhe, 1949, S. 60.

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  5. »Goethes Versuche: die Metamorphose gehört zu den Erklärungen des Organischen aus der wirkenden Ursache. Jede wirkende Ursache beruht schließl. auf einem Unerforschlichen (das eben beweist, daß dies der richtige menschl. Weg ist). Deshalb verlangt man nicht bei der unorganischen Natur nach den Endursachen, weil hier nicht Individuen, sondern Kräfte zu bemerken sind. / d. h. weil wir alles mechanisch auflösen können und in Folge davon mehr an Zwecke glauben.« Nietzsche: Schriften der Studenten- und Militärzeit 1864–68. Hrsg. v. H. J. Mette und K. Schlechta. In: Historisch-Kritische Gesamtausgabe Bd. 3, München 1935, S. 380. Vgl. auch die weiteren Notate Nietzsches: »Was ist Organismus anders als Form, geformtes Leben?« (A. a. O., S. 386) »Nun erfassen wir an einem Lebenden überhaupt nichts als Formen. Das ewig Werdende ist das Leben: durch die Natur unsres Intellekts erfassen wir Formen: Unser Int(ellekt) ist zu stumpf, um die fortwährende Verwandlung wahrzunehmen: das ihm Erkennbare nennt er Form. In Wahrheit kann es keine Form geben, weil in jedem Punkte eine Unendlichkeit sitzt (…).« (A. a. O., S. 387) Schon M. A. Saleski hat auf diesen Passus aufmerksam gemacht. (Goethe als Erzieher Nietzsches. Leipzig, 1929, S. 16.) Vgl. auch A. Mittasch: Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph. Stuttgart, 1952, S. 20 und Schlechtas Nachweise zu Nietzsches Lektüre von Bedenken und Ergebung und Anschauende Urteilskraft. In: Hist.-Krit. Ausgabe Bd. 3, S. 460.

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  6. Christa Lichtenstern: Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes. Von Philipp Otto Runge bis Joseph Beuys. Weinheim, 1990, S. 18.

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Thönges, B. (1993). Anthropomorphismus. In: Das Genie des Herzens. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04182-1_6

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-04182-1_6

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-45024-1

  • Online ISBN: 978-3-476-04182-1

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