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Kafkas thanatographisches »Genießen« und Walter Benjamins Roman-Poetik

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Zusammenfassung

»Ich habe deine große Wunde aufgefunden; an dieser Blume in deiner Seite gehst du zugrunde.«1 Dieser Befund des Landarztes gilt für viele, wenn nicht für alle Protagonisten Kafkas: Das Feld ihrer Darstellung steht im Zeichen von Messern, die irgendwo immer schon gezückt, von Wunden, Metastasen und Obsessionen, die irreversibel, von ›unnatürlichen‹ Todesarten (Hinrichtung, Mord, Selbstmord), die von Beginn an imminent sind und oft genug aktuell werden. Die Lust am Erzählen solchen Sterbens hat Kafka wiederholt als Kern seines Schreibens bestimmt: Bei dem »Besten was ich geschrieben habe, […] handelt es sich immer darum, daß jemand stirbt«. Mehr noch: »Ich freue mich ja in dem Sterbenden zu sterben.«2

Die Theorie des Sterbens gehört zum Roman wie die Theorie der Wollust und der Weiblichkeit.

(Friedrich Schlegel)

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Notizen

  1. Kafka, Franz: Ein Landarzt, in: ders., Drucke zu Lebzeiten, hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann, Frankfurt a. M. 1994, S. 258.

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  2. Kafka, Tagebücher, hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller u. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1990, S. 708.

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  3. Kafka, Briefe 1902–1924, hg. v. Max Brod, Frankfurt a. M. 1958, S. 385.

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  4. Freud, Sigmund: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt a. M., 1966–1969, S. 341–344.

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  5. Vgl. Julia Kristeva, Pouvoirs de l’Horreur. Essai sur l’Abjection, Paris 1980, S. 131.

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  6. In Phasen »schlechten« Schreibens verkehrt sich die »entzückte« Vision dieses Traums regelmäßig in ihre ›depressive‹ Variante. Der Schriftsteller als (Herr über den) Grabstein sieht sich und seinen Leser dann verzweifelt dem Leichengeruch ausgesetzt und hat nurmehr eine »vage Hoffnung«, ihn fortblasen zu können: »Ich bin ja wie aus Stein, wie mein eigenes Grabdenkmal bin ich, da ist keine Lücke für Zweifel oder für Glauben, für Liebe oder Widerwillen, für Muth oder Angst im besonderen oder allgemeinen, nur eine vage Hoffnung lebt, aber nicht besser, als die Inschriften auf den Grabdenkmälern. […] Das wäre ja noch das größte Unglück nicht, nur müßte ich dann Worte erfinden können, welche imstande sind, den Leichengeruch in einer Richtung zu blasen, daß er mir und dem Leser nicht gleich ins Gesicht kommt« (Tagebücher, S. 130). In Kafkas nachgelassenen Notizheften finden sich dagegen Ansätze zu weiteren Erzählungen, die sich wie Ein Traum die Lust am Sterben und Beerdigen nicht durch die Gefahr des Leichengeruchs verderben lassen. Leichenwagen-Kutscher, die Schweinebraten bestellen, fröhliche Totengräber und Kinder, die sich nicht an der Präsenz von Leichen in ihrem Schlafzimmer stören, sind die Helden dieser Erzählfragmente. Vgl. Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1993, S. 420 und Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a. M. 1992, S. 335–336 und 363.

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  7. Benjamin, Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u.a., Bd. 2, Frankfurt a. M. 1977, S. 449–450.

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Winfried Menninghaus Klaus R. Scherpe

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Menninghaus, W. (1999). Kafkas thanatographisches »Genießen« und Walter Benjamins Roman-Poetik. In: Menninghaus, W., Scherpe, K.R. (eds) Literaturwissenschaft und politische Kultur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03797-8_12

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