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Hermann Kretzschmar: Restitution der Affektenlehre als wissenschaftliche Grundlegung musikalischer Hermeneutik

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Musikwissenschaft — eine verspätete Disziplin?

Zusammenfassung

Sehr im Unterschied zu den musikhistorischen Arbeiten des 1848 geborenen Hermann Kretzschmars haben seine Anregungen zur Begründung einer musikalischen Hermeneutik bis heute wenig Anerkennung gefunden. Das liegt nicht so sehr daran, daß Kretzschmar 1902 nach dem Vorbild von Theologie, Philologie und Geisteswissenschaften auch für die Musik eine Hermeneutik postulierte, sondern daß er den Affektbegriff, der schon um 1800 seine musiktheoretische Kraft eingebüßt hatte, als grundlegende Kategorie des Verstehens von Musik betrachtete: »Die Affekte aus den Tönen zu lösen und das Gerippe ihrer Entwicklung in Worten zu geben«1, ist nach Kretzschmar die erste Aufgabe von musikalischer Hermeneutik und zugleich die einzige, die sich auf dem Boden des »streng Beweisbaren« befinde2. Ein zweiter Schritt führe zu Fragestellungen nach den von der Musik selbst nicht dargestellten Objekten ihres Affektgehaltes, also nach Beziehungen zur Lebenssituation des Komponisten, zu musikalischen Sitten und Bräuchen und schließlich zum Geist der Zeit3. Kretzschmars Insistenz auf dem Affektbegriff ist zwar zum Beispiel in Arnold Scherings Theorie der musikalischen Symbolik mit eingeflossen und hat insbesondere dem Verständnis der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts wertvolle Impulse gegeben — als tragende Kategorie einer Hermeneutik, die nach Kretzschmars eigenen Worten gleichsam auf die kompositorische Logik und den geistigen Gehalt von Musik zielt4, schien sie jedoch ungeeignet.

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Notizen

  1. Hermann Kretzschmar, Anregungen zur Förderung musikalischer Hermeneutik, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 9 (1902), S. 45–66; hier S. 51;

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  2. auch in: Kretzschmar, Gesammelte Aufsätze über Musik und anderes, Band II (Gesammelte Aufsätze aus den Jahrbüchern der Musikbibliothek Peters), Leipzig: Peters 1911, S. 168–192; hier S. 173–174.

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  3. Vgl. Werner Braun, Kretzschmars Hermeneutik, in: Beiträge zur musikalischen Hermeneutik, hrsg. Carl Dahlhaus (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, 43), Regensburg: Bosse 1975, S. 33–39;

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  4. Heinz-Dieter Sommer, Praxisorientierte Musikwissenschaft. Studien zu Leben und Werk Hermann Kretzschmars (Freiburger Studien zur Musikwissenschaft, 16), München/Salzburg: Katzbichler 1985;

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  7. Hermann Kretzschmar, Neue Anregungen zur Förderung musikalischer Hermeneutik: Satzästhetik, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 12 (1905), S. 73–86; hier S. 85; auch in: Kretzschmar, Gesammelte Aufsätze, Band II (wie Anm. 1), S. 280–293; hier S. 293.

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  8. Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen, Teil III, Teilband 2, Heft 4 (Die Musik), Stuttgart: Macken 1857, S. 779 (§747);

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  9. auch in: Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen, hrsg. Robert Vischer, Band V, München: Meyer & Jessen 1923 (Reprint: Hildesheim: Olms 1996), S. 6.

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  12. Vgl. dazu Hartmut Grimm, Musik und Natur — Musikalische Ausdrucksästhetik im 19. Jahrhundert, in: Zwischen Aufklärung und Kulturindustrie. Festschrift für Georg Knepler zum 85. Geburtstag, hrsg. Hanns-Werner Heister, Karin Heister-Grech und Gerhard Scheit, Hamburg: von Bockel 1993, Band I (Musik/Geschichte), S. 105–114; hier S. 109–111.

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  13. Vgl. Doris Stockmann, Die ästhetisch-kommunikativen Funktionen der Musik unter historischen, genetischen und Entwicklungsaspekten, in: Musikästhetik in der Diskussion, hrsg. Harry Goldschmidt und Georg Knepler, Leipzig: Deutscher Verlag für Musik 1981, S. 90–115.

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  14. Vgl. Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst [1854], hrsg. Dietmar Strauß, Mainz: Schott 1990, Band I, S. 48; die Formulierung »von Haus aus« findet sich erstmals in der sechsten Auflage von 1881, vorher hieß es »von Natur aus«.

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  15. Herbert Spencer, The origin and function of music [1857], in: Spencer, Essays: scientific, political, and speculative: reprinted chiefly from the quarterly reviews, London: Longman 1858, S. 359–384; hier S. 371.

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  16. Vgl. Kretzschmar, Kurze Betrachtungen über den Zweck, die Entwickelung und die nächsten Zukunftsaufgaben der Musikhistorie, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 14 (1907), S. 83–96; hier S. 86–87; auch in: Kretzschmar, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 1), Band II, S. 357–373; hier S. 361–362.

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  17. Vgl. Heinrich Besseler, Bach und das Mittelalter, in: Bericht über die wissenschaftliche Bachtagung der Gesellschaft für Musikforschung, Leipzig 23.–26. Juli 1950, hrsg. Walther Vetter und Ernst Hermann Meyer, Leipzig: Peters 1951, S. 108–130; hier S. 126–127;

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  18. auch in: Heinrich Besseler, Aufsätze zur Musikästhetik und Musikgeschichte, hrsg. Peter Gülke (Reclams Universal-Bibliothek, 740), Leipzig: Reclam 1978, S. 332–350; hier S. 346.

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  19. Vgl. Martin Czembor, Affekt als Aspekt des ästhetischen Selbstverständnisses bei Wolfgang Rihm, in: Berliner Beiträge zur Musikwissenschaft (Beihefte zur Neuen Berlinischen Musikzeitung) Heft 1/1994, S. 3–24.

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Grimm, H. (2000). Hermann Kretzschmar: Restitution der Affektenlehre als wissenschaftliche Grundlegung musikalischer Hermeneutik. In: Gerhard, A. (eds) Musikwissenschaft — eine verspätete Disziplin?. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03772-5_5

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03772-5_5

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-01667-6

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