Zusammenfassung
Bei einem oberflächlichen Blick auf Andersens Romane, Märchen und Reisebücher dominiert der Eindruck des Harmonischen, in sich Gefügten, den der Dichter durch seine Autobiographie »Mit Livs Eventyr« (1855; »Das Märchen meines Lebens«, dt. bereits 1847 als Einleitung der deutschen Gesamtausgabe »Sämtliche Werke«) schon zu Lebzeiten bewußt verstärkte: »Mein Leben ist ein schönes Märchen, so reich und hold«.1 Die durch die Andersen-Forschung gründlich durchleuchtete Biographie, der Briefwechsel mit seinen Mäzenen im Hause Collin, vor allem aber die erst vor einigen Jahren edierten Tagebücher2 zeigen hinter der mühsam errichteten harmonischen Fassade eine zerrissene, oft disharmonische, egozentrische Persönlichkeit, die ihr Leben einerseits ehrgeizig und eitel arrangierte, andererseits in den Plan der göttlichen Vorsehung einordnete. In dieses »Muster« fügen sich dann auch der in Deutschland beginnende Weltruhm, die zahlreichen Ehrungen, das unstete Leben des nie seßhaften, kränklichen und nervösen Dichters, die sexuellen Anfechtungen des Junggesellen Andersen, der als Zuschauer im Bordell »rein« bleibt, der ständige Hunger nach Liebe und Anerkennung, der düstere Pessimismus, allesamt Züge, die in der Autobiographie verdrängt und im dichterischen Werk durch einen (manchmal grimmigen) Humor verändert werden. Hinzukommt die homoerotische Fixierung, die in vielen Werken camoufliert3 oder auch sublimiert wird.
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Anmerkungen
Dieser Beitrag ist ebenfalls abgedruckt in: Heine gehört auch uns — Tagungsband des Internationalen Heine-Symposiums ’97 Beijing. Hrsg. von Zhang Yushu. Beijing 1998, S. 358–371.
Hans Christian Andersen: Das Märchen meines Lebens. Briefe. Tagebücher. Aus dem Dänischen übertragen von Thyra Dohrenburg. München 1961, S. 7. — Um die Lesbarkeit des Textes nicht zu beeinträchtigen, wird hier und im folgenden bei den dänischen Prosatexten auf die Wiedergabe der Originalzitate verzichtet und jeweils nur ein Stellenverweis gegeben.
Hier: H. C. Andersen: Mit Livs Eventyr. Rev. Textausgabe v. H. Topsøe-Jensen. 2 Bde. Kopenhagen 1975; Bd.I., S. 27.
H. C. Andersens Dagbøger 1825–1875. 12 Bde. Kopenhagen 1971–77.
Deutsche Auswahlausgabe: Aus Andersens Tagebüchern. Hrsg. und aus dem Dänischen übertragen von Heinz Barüske. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1980.
Vgl. Heinrich Detering: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen 1994 (Kap. V. »›Geistige Amphibien‹. Hans-Christian Andersen«).
Helge Hultberg, »Heine in Dänemark 1825–70«. In: Heinrich Heine -Werk und Wirkung in Dänemark. Kopenhagen und München 1985, S. 77–90, Zitat S. 82. (= Kopenhagener Kolloquien zur deutschen Literatur; Bd. 10; zugl. Text & Kontext. Sonderreihe. Bd. 19).
Einige — wenig ergiebige — Hinweise bei Victor A. Schmitz: »Dänische Dichter in ihrer Begegnung mit deutscher Klassik und Romantik. Frankfurt 1974, S. 139 (= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 32).
H. C. Andersen: Samlede Skrifter. Zweite Ausg. Bd. XII. Kopenhagen 1879, S. 143.
Søren Kierkegaard: Aus eines noch Lebenden Papieren. In: S. K. Erstlingsschriften. Unter Mitarbeit von Rose Hirsch übersetzt von Emanuel Hirsch. Düsseldorf 1960, S. 39–92, Zitat S. 59; dänisch:
Søren Kierkegaard: Af en endnu Levendes Papirer. In: S. K.: Samlede Værker. Hrsg. von A. B. Drachmann u.a. 2. Ausg. Bd. XIII. Kopenhagen 1930, S. 45–100, Zitat S. 69. — Vgl. auch:
Jørgen Bukdahl: »Søren Kierkegaard og Heine«. In: Kierkegaardiana. Bd. VIII. Kopenhagen 1971, S. 23–25.
Zitiert im folgenden nach der Ausgabe: Heinrich Heine: Die Harzreise. In: Sämtliche Schriften. Hrsg. von K. Briegleb, Bd. II. München 1969, S. 97–166; Stellenverweise im fortlaufenden Text.
Heinrich Teschner stellt in seiner Dissertation einige Textparallelen zusammen, ohne sich auf die Texte selbst näher einzulassen. Vgl. Heinrich Teschner: Hans Christian Andersen und Heinrich Heine. Ihre literarischen und persönlichen Beziehungen. Phil. Diss. Münster 1914, S. 70–72.
Vgl. Walter A. Berendsohn: Der lebendige Heine im germanischen Norden. Kopenhagen 1935. — Diese, im dänischen Exil geschriebene Studie über Heines Rezeption in Skandinavien ist als Sammlung verdienstvoll, reicht aber kaum über das Faktische hinaus. Im Grunde genommen hat sie auch eine ganz andere Zielsetzung: »In einer Zeit, da man in Deutschland Verrat übt an der grossen Überlieferung deutscher Kultur, das Deutschtum nicht mehr als geistige Aufgabe betrachtet […], sondern im Rassenwahn das Judentum beschimpft und verfolgt und allen jüdischen Einfluß, am liebsten einschliesslich der Bibel, ausrotten möchte, […] ist es meine Pflicht als Emigrant, dem man Heimat und Vaterland, Lebens- und Arbeitskreis […] genommen hat, klar auszusprechen, dass wir Juden mit Fug und Recht stolz sind auf das grosse jüdische Erbe in Heines Wesen und Werk. Im germanischen Norden hat man nie übersehen, dass Heine Jude war und sich seiner Kunst doch hingegeben.« (S. 13).
Vgl. Joseph A. Kruse: »›Man ist Poet oder man ist es nicht‹. Heines Begegnung mit der dänischen Literatur«. In: Heinrich Heine — Werk und Wirkung in Dänemark. Kopenhagen und München 1985, S. 11–35. (= Kopenhagener Kolloquien zur deutschen Literatur. Bd. 10; zugl. Text & Kontext. Sonderreihe. Bd. 19).
Vgl. Fritz Paul: Akromanie. Zur Tradition und Innovation eines literarischen Motivs bei Goethe, Baggesen, Heine, Andersen und Ibsen. In: Das Wagnis der Moderne — Festschrift für Marianne Kesting. Hrsg. von Paul Gerhard Klussmann u.a. Frankfurt 1993, S. 81–103; ders.: Utsynet fra toppen. Tradisjon og forandring i et litterært motiv fra følsomhetens tid til Ibsen. In: Edda 94 (1994), S. 13–26.
Vgl. Karlheinz Stierle: Petrarcas Landschaften. Zur Geschichte ästhetischer Landschaftserfahrung. Krefeld 1979, S. 11 (= Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts Köln, Bd. 29).
Ferner Karlheinz Stierle: »Die Entdeckung der Landschaft in Literatur und Malerei der italienischen Renaissance«. In: Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs. Hrsg. von Heinz-Dieter Weber. Konstanz 1989, S. 33–52 (= Konstanzer Bibliothek, Bd. 13).
Vgl. die stark kunsthistorisch geprägte Darstellung von Jacek Wozniakowski: Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges in der europäischen Neuzeit. Übers. v. Th. Mechtenberg. Frankfurt 1987.
Ulrich Mölk: »Gustave Flaubert am zweiten Katarakt: ›Je l’appelerai Emma Bovary‹«. In: Romanische Forschungen 96 (1984), S. 264–277, Zitat S.275.
Vgl. Fritz Paul: Henrich Steffens. Naturphilosophie und Universalromantik. München 1973.
Zu diesem romantischen Kunsttopos: Paul Gerhard Klussmann: Andachtsbilder. Wackenroders ästhetische Glaubenserfahrung und die romantische Bestimmung des Künstlertums. In: Festschrift für Friedrich Kienecker zum 60. Geburtstag. Hrsg. von G. Michels. Heidelberg 1980, S. 69–95, insbes. S. 84 ff.
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Paul, F. (1998). Plagiat, imitatio oder writing back?. In: Kruse, J.A. (eds) Heine-Jahrbuch 1998. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03757-2_10
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