Zusammenfassung
»O God, thy arm was here; / and not to us, but to thy arm alone, / Ascribe we all!«1 Nicht dem Pfeilhagel englischer Langbogen, sondern dem Arm Gottes schreibt Shakespeares Heinrich V. den überwältigenden Sieg der zahlenmäßig weit unterlegenen Engländer 1415 bei Agincourt über das französische Ritterheer zu. Nur wenig früher, nämlich gegen Ende des 14. Jahrhunderts, spielt das, was Heinrich von Kleist unter dem Titel ›Der Zweikampf‹ erzählt. Hier aber stellt sich, was zunächst als »Urteil Gottes« (II, 253) gilt, schließlich als »Unfall« (II, 249) heraus mit der Folge, daß für menschliche Augen »Gottes Wille« (II, 261) vom »nichtigen Zufall« (II, 248) nicht mehr unterscheidbar ist. Der »Arm der Gerechtigkeit« (II, 260) erreicht Graf Jakob den Rotbart erst über den Umweg einer katastrophalen Verkettung von Ereignissen, die den »Pfeilschuß aus dem Dunkel der Gebüsche«, dem Herzog Wilhelm von Breysach zum Opfer fällt, mit der »Feindschaft« (II, 229) der beiden Halbbrüder in Zusammenhang bringt. Die »Ränke« (II, 256) der Kammerzofe Rosalie, die dem Grafen überzeugend vortäuschen, er verbringe eine Nacht nicht mit ihr, sondern mit ihrer Herrin Littegarde von Breda, und die vor allem im Abfangen fremder und einer gezielten Streuung falscher Nachrichten bestehen, erweisen sich dabei als paradigmatische Form der Interaktion, deren Elemente »Geheimhaltung, Geschwindigkeit und Affekt«2 sind.
Zerschellt ward nun das ganze Römerheer, Gleich einem Schiff, gewiegt in Klippen, Und nur die Scheitern hülflos irren Noch, auf dem Ozean des Siegs, umher!
Heinrich von Kleist: Die Hermannsschlacht
Ferner: jeder Krieg ist reich an individuellen Erscheinungen, mithin ist jeder ein unbefahrenes Meer voll Klippen, die der Geist des Feldherrn ahnen kann, die aber sein Auge nie gesehen hat, und die er in dunkler Nacht umschiffen soll.
Carl von Clausewitz: Vom Kriege
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Anmerkungen
William Shakespeare, King Henry V / König Heinrich V, Stuttgart 1996, IV, 8, S. 108–110.
Gilles Deleuze und Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 488.
Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, 3. Aufl., Berlin 1992, S. 15.
Matthieu Carrière, Für eine Literatur des Krieges, Kleist, Basel und Frankfurt a.M. 1984, S. 52.
Vgl. Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg i. Br. 1987, S. 250–254. Die gleiche Hoffnung verband Clausewitz mit seiner ›Bekenntnisdenkschrift‹ von 1812, die selbst Poesie ist, da sie nicht nur die »Sprache der ruhigen Überlegung«, sondern auch die »Sprache des Gemüthes« spricht. Vgl. Carl von Clausewitz, Schriften — Aufsätze — Studien — Briefe. Dokumente aus dem Clausewitz-, Scharnhorst- und Gneisenau-Nachlaß sowie aus öffentlichen und privaten Sammlungen, hg. von Werner Hahlweg, Göttingen 1966, Bd. 1, S. 678–751, hier S. 690.
John Keegan, Die Kultur des Krieges, Reinbek 1997, S. 353.
Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Vollständige Ausgabe im Urtext, 19. Aufl., Bonn 1980, S. 280.
Stefan Kaufmann, Kommunikationstechnik und Kriegführung 1815–1945. Stufen telemedialer Rüstung, München 1996, S. 44. Am Ende des 18. Jahrhunderts ähnelte das Exerzieren in den preußischen Revuemanövern tatsächlich »einem gut einstudierten Theaterstück«. Vgl. Colmar v. der Goltz, Von Roßbach bis Jena und Auerstedt. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen Heeres, Berlin 1906, S. 489.
James F. Dunnigan und Albert A. Nofì, Victory and Deceit. Dirty Tricks at War, New York 1995, S. 105f.
Kaufmann (wie Anm. 9), S. 45. Kleist hat »am Paradigmenwechsel zu diesem neuen Zeitalter der Kriegsführung« sowohl mit seinen militärischen Dramen ›Die Hermannsschlacht‹ und ›Prinz Friedrich von Homburg‹ als auch mit seinen Erzählungen und ästhetischen Reflexionen »mitgeschrieben«. Vgl. Wolf Kittler, Todesarten. Literatur und Kybernetik in Thomas Bernhards »Jagdgesellschaft«. In: Bernhard J. Dotzler (Hg.), Technopathologien, München 1992, S. 223–246, hier S. 225.
Johann Gottfried Hoyer, Geschichte der Kriegskunst seit der ersten Anwendung des Schießpulvers zum Kriegsgebrauch bis an das Ende des 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Göttingen 1797–1800 (Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. 7. Abt. Geschichte der Mathematik II).
John F. W. Herschel, Über die Lehre von den Wahrscheinlichkeiten und ihre Anwendungen auf die physikalischen und sozialen Wissenschaften. In: Adolphe Quetelet, Soziale Physik oder Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen, 2 Bde., Jena 1914–1921, Bd. 1, S. 6–100, hier S. 24.
Vgl. Bernhard J. Dotzler, Papiermaschinen. Versuch über Communication & Control in Literatur und Technik, Berlin 1996, S. 607 f.
Hermann Giehrl, Der Feldherr Napoleon als Organisator. Betrachtungen über seine Verkehrs- und Nachrichtenmittel, seine Arbeits- und Befehlsweise, Berlin 1911, S. 88.
Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 5. Aufl. Berlin 1990, S. 13.
Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hg. von Rolf Tiedemann, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1982, S. 55.
Raymond Aron, Clausewitz. Den Krieg denken, Frankfurt a.M., Berlin und Wien 1980, S. 266.
Vgl. Jacques Lacan, Das Seminar. Buch II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, hg. v. Norbert Haas u. Hans-Joachim Metzger, Berlin 1991, S. 376–381.
Martin van Creveld, Command in War, Cambridge/Mass. und London 1985, S. 68. Vgl. auch Kaufmann (wie Anm. 9), S. 61: »Napoleon agierte als politisch-strategischer Führer mittels eines fixen, sternförmig organisierten Kommunikationsnetzes aus Paris. Als operativer Führer bewegte er sich bei der Avantgarde in der Mitte der aufgeteilten Marschkolonnen, die er mittels berittener Ordonnanzen und schriftlicher Botschaften koordinierte. Als taktischer Führer auf dem Schlachtfeld kontrollierte er den Verlauf des Gefechts auf der Basis eigener Wahrnehmungen und mündlicher Befehle.«
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Berlin 1799, S. 57.
Clausewitz (wie Anm. 8), S. 251. Vgl. dazu auch Clausewitz’ Bemerkungen zum »Charakter der Privathäuser«, wo er es zwar zunächst ablehnt, von einer architektonischen »Normalordnung« zu sprechen, diese dann aber nur unwesentlich zum »immer wiederkehrenden Hauptcharakter« modifiziert (Ein kunsttheoretisches Fragment des Generals von Clausewitz, mitgeteilt von Hans Rothfels. In: Deutsche Rundschau 173, 1917, S. 373–382, hier S. 381 f.).
Kant (wie Anm. 65), S. 57 f. Von der Bewegungsphysiologie des 19. bis zur Psychotechnik des frühen 20. Jahrhunderts erfuhr diese transzendentale Ästhetik des Normalen oder Typischen dann ihre experimentalwissenschaftliche Fleischwerdung. So begegneten die Brüder Eduard und Wilhelm Weber 1836 (Wilhelm Weber und Eduard Weber, Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Eine anatomisch-physiologische Untersuchung, Göttingen 1836, zit. nach: Wilhelm Weber’s Werke, Bd. 6, Berlin 1894) dem Problem, daß »beim Gehen und Laufen an eine vollkommen übereinstimmende Wiederholung der Versuche und Messungen unter den in und ausser dem Körper stets wechselnden Verhältnissen nicht zu denken« und es folglich »unmöglich« war, »auf dem Wege des Experimentes allein zu den Gesetzen dieser Bewegungen zu gelangen«(S. 293), indem sie ihre Ergebnisse »auf einen Normalfall« (S. 239) zurückführten. Dieser errechnete Normalfall, über den es gelang, »in das Chaos der verschiedenen Beobachtungen Ordnung zu bringen« (S. 294), hatte sein physiologisches Korrelat in der motorischen »Gewohnheit«, die zugleich die »Schönheit« der Bewegungsgestalt begründete (S. XI).
Clausewitz (wie Anm 8), S. 810f. Das Wort »Kriegstheater« wird im Laufe des 18. Jahrhunderts nach dem französischen théâtre de la guerre gebildet, und zwar in enger Verbindung mit der kartographischen Repräsentation des Krieges, wie der Titel einer zeitgenössischen Kartensammlung zum Dritten Schlesischen Krieg belegt: ›Neues Kriegs-Theater oder Sammlung der merkwürdigsten Begebenheiten des gegenwärtigen Krieges in Teutschland in accuraten in Kupfer gestochenen Vorstellungen nebst einem Avertissement‹ (Leipzig 1758). In Goethes autobiographischer ›Campagne in Frankreich 1792‹ ist mehrfach von einem »Auszug des topographischen Atlas von Deutschland« die Rede, »welchen Jäger zu Frankfurt, unter dem Titel ›Kriegstheater‹, veranstaltet« und den der künftige Oberkommandierende der deutschen Dichtung zur Orientierung stets bei sich trägt. Vgl. Goethes Werke, 6. Aufl. München 1976, Bd. X, S. 188–363, hier S. 188, vgl. auch S. 204 und S. 210.
vgl. Carl Friedrich Baumann, Licht im Theater. Von der Argand-Lampe bis zum Glühlampen-Scheinwerfer, Stuttgart 1988, S. 245f.
Vgl. Richard Samuel, Kleists »Hermannsschlacht« und der Freiherr vom Stein. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 5 (1961), S. 64–101;
Zur Frage einer möglichen persönlichen Bekanntschaft vgl. Peter Paret, Kleist and Clausewitz. A Comparative Sketch. In: Festschrift für Eberhard Kessel zum 75. Geburtstag, hg. von Heinz Durchardt und Manfred Schlenke, München 1982, S. 130–140.
Werner Hamacher, Unlesbarkeit. In: Paul de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 7–22, hier S. 22.
Vgl. Peter Galison, The Ontology of the Enemy. Norbert Wiener and the Cybernetic Vision. In: Critical Inquiry 21 (1994), Nr. 1, S. 228–266, hier S. 231.
Vgl. Friedrich A. Kittler, Ein Erdbeben in Chili und Preußen. In: David E. Wellbery (Hg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists »Das Erdbeben in Chili«, München 1985, S. 24–38.
Clausewitz (wie Anm. 8), S. 242. Zur Geschichte der neurophysiologischen Experimente, die dieses Unbewußte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunächst an elektrisierten Froschbeinen zur Erscheinung gebracht haben, vgl. Georges Canguilhem, A Vital Rationalist. Selected Writings, hg. von François Delaporte, New York 1994, S. 122–128.
Heinrich von Kleist, Penthesilea. Ein Trauerspiel, Vs. 1349–1350.
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v. Herrmann, HC. (1998). Bewegliche Heere. In: Blamberger, G. (eds) Kleist-Jahrbuch 1998. Kleist-Jahrbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03755-8_11
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