Zusammenfassung
Im Jahre 1780 erschien Friedrichs des Großen Schrift ›Über die deutsche Litteratur, die Mängel, die man ihr vorwerfen kann, die Ursache derselben und die Mittel sie zu verbessern‹ zugleich französisch und deutsch. Dieses königliche Wort löste in der deutschen Gelehrtenrepublik sogleich jenes Kopfschütteln aus, das heute noch zur Gymnastik der Intellektuellen gehört, wenn sich die Politik in ihre Dinge mischt.1 Wie konnte jemand Shakespeares Dramen als »lächerliche Farcen« abtun, die allenfalls vor den »Wilden von Canada« gespielt werden dürften? Wie konnte man den ›Götz von Berlichingen‹ als »ekelhaftes Gewäsche« niederreden und zugleich über eine triviale Komödie wie Cornelius von Ayrenhoffs ›Der Postzug‹ königliches Lob ausgießen? Der König begründete seine Shakespearepolemik unter anderem damit, daß im Drama des Engländers die äußerste Unwahrscheinlichkeit regierte: Die Einheitsregeln der Zeit, des Orts und der Handlung würden nicht beachtet. Man hat diese Kritik stets als eine an die französische Aristoteles-Auslegung angelehnte königlich-ignorante Bemerkung gelesen. Denkt man aber daran, daß Friedrich ein bedeutender Armeereformer, Feldherr und Kriegstheoretiker war, dann ist seine Besorgnis über die aus den Fugen geratenen Räume und Zeiten auf den Bühnen begreiflich. Sollte der König tatenlos zusehen, wie das unterhaltende Theater seinen Offizieren die Begriffe von Raum und Zeit verwirrte? Aller Bühnenwahrscheinlichkeit entfremdet, sollten sie auf dem Kriegstheater, wie es von Clausewitz nennen wird, die Orientierung weiter bewahren können?
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Anmerkungen
Friedrich der Große, Generalprinzipien des Krieges in Anwendung auf die Taktik und auf die Disciplin der preussischen Truppen. In: Kriegswissenschaftliche Schriften Friedrichs des Grossen. Deutsch mit Einleitung, Anmerkungen und einem Anhang von Heinrich Merkens, Jena 1876, S. 1–120, hier S. 48.
Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg i.Br. 1987.
Ernst Cassirer, Heinrich von Kleist und die kantische Philosophie. In: Ders., Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Kleist, Berlin 1921.
— Hanna Hellmann, Heinrich von Kleist und »Der Kettenträger«. In: GRM 13 (1925), S. 350–363.
— Ludwig Muth, Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie. Versuch einer neuen Interpretation, Köln 1954 (Ergänzungsheft der Kantstudien 68).
— Ulrich Gall, Philosophie bei Heinrich von Kleist. Untersuchungen zur Herkunft und Bestimmung des philosophischen Gehalts seiner Schriften, Bonn 1977 (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik, Bd. 123).
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. In: Ders., Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 3–4, S. 69–96.
Kant (wie Anm. 6), S. 79. Daß bereits vor 1800 mit »Kantischer Philosophie« vor allem diese sensationellen Bemerkungen über die apriorischen Gegebenheiten der menschlichen Erkenntnis bezeichnet wurden, das läßt sich allenthalben bei Lichtenberg nachlesen. Und auch Lichtenberg zählt neben Raum und Zeit sinnliche Daten wie Farben dazu. Im Sudelbuch J findet sich die Bemerkung 1168: »[…] was wir wahrnehmen sind nicht die Dinge selbst, das Auge schafft das Licht und das Ohr die Töne. […] Eben so ist es mit dem Raume, und der Zeit. […] Es ist aber nicht möglich sich hiervon ohne tiefes Denken zu überzeugen. Man kann Kantische Philosophie in gewissen Jahren glaube ich eben so wenig lernen als das Seiltanzen.« Vgl. im Heft H die Bemerkung Nr. 19: »[…] behaupten zu wollen, die Körper objektive nehmen einen Raum ein, ist gerade so unsinnig, als ihnen eine Farbe, oder gar eine Sprache zuzuschreiben.« In: Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, München 1968–1992, Bd. 1, S. 818 sowie Bd. 2, S. 180.
Vgl. hierzu immer noch: August Langen, Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus, Jena 1934, Neudruck Darmstadt 1965.
Zum Myriorama und Polyorama vgl. den Katalog: Beauty, horror and immensity. Picturesque landscape in Britain, 1750–1850. Exhibition selected and catalogued by Peter Bicknell. Fitzwilliam Museum. Cambridge July–August 1981, Cambridge 1981, S. 94f. und Abb. 93.
Zum Panorama vier Titel: Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, Hamburg 1938, Neudruck Frankfurt a.M. 1974.
— Heinz Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert, München 1970.- Stephan Oettermann, Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt a.M. 1980.
Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon. In: Ders., Werke, hg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert, München 1964ff., Bd. I, S. 700.
Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, Hamburg 61966, Bd. 13. S. 343.
Zum Claude-glass verweise ich auf folgende Literatur: Jean Hagstum, The Sister Arts, Chicago 1958, S. 141–143.
— Deborah J. Warner, The landscape mirror and glass. In: Antiques, January 1974, S. 158–159.
— Malcolm Andrews, The Search for the Picturesque. Landscape Aesthetics und Tourism in Britain, 1760–1800, London 1989, S. 67ff
John Dixon Hunt, Picturesque Mirrors and the Ruins of the Past. In: Art History 4 (1981), No 3, S. 254–270.
— Christopher Mulvey, Anglo-American landscapes: a study of 19th century Anglo-American travel literature, Cambridge 1983, S. 252–254.
Edmund W. Gosse, Gray, New York 1882, S. 186.
William Gilpin, Remarks on Forest Scenery, and other Woodland Views (relative chiefly to Picturesque Beauty) illustrated by the Scenes of New-Forest in New Hampshire (1791). Zitiert nach: Malcolm Andrews (Hg.), The Picturesque. Literary Sources & Documents, vol. I–III, Mountfield 1994, vol. I, S. 491f.
Hierzu Monika Wagner, Das Gletschererlebnis — Visuelle Naturaneignung im frühen Tourismus. In: Götz Großklaus und Ernst Oldemeyer (Hg.), Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Karlsruhe 1983 (Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten), S. 235–263 (Hinweis von Christoph Hennig, München).
Salomon Gessner, Briefwechsel mit seinem Sohne, Bern und Zürich 1801. Zitat nach Oet-termann (wie Anm. 10), S. 74.
Jean Paul, Flegeljahre. In: Ders., Werke, hg. von Norbert Miller u.a., München 1959–1977, Bd. II, S. 900 (Hinweis von Christoph Hennig, München).
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1986, Bd. 8, S. 468.
Für Diderot verweise ich auf den ›Essai sur la peinture‹ von 1765: »La principale idée, bien conçue, doit exercer son despotisme sur toutes les autres.« In: [Denis] Diderot, Œuvres, Texte établie et annoté par André Billy, Paris 1951 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 1143–1200, S. 1184. Lessing entwickelt den entsprechenden Gedanken im ›Laokoon‹: Der Künstler kann »von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen.« Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hg. von Herbert G. Göpfert, München 1970–79, Bd. IV, S. 7–187, S. 25.
Barthold Heinrich Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott, Hamburg und Berlin 1721–1743, Nachdruck Bern 1970, VII. Teil: Landleben in Ritzebüttel, S. 660–663.
Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher. In: Ders., Schriften und Briefe (wie Anm. 7), Bd. I, S. 615 (F 1080).
Eine wahrhaft ins Detail gehende Rekonstruktion der verschiedenen Phasen, durch die Kleists Bildästhetik geht, bietet Gernot Müller, Kleist und die bildende Kunst, Tübingen und Basel 1995.
Zum Marionettenaufsatz verweise ich auf die Lektüre von Paul de Man, Ästhetische For-malisierung: Kleists ›Über das Marionettentheater‹. In: Ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 205–233.
In die gleiche Richtung zielt der vorzügliche Aufsatz von Ernst Osterkamp, Das Geschäft der Vereinigung. Über den Zusammenhang von bildender Kunst und Poesie im ›Phöbus‹. In: KJb 1990, S. 51–70.
Karl Anton Graff, Fragment von Wanderungen in der Schweiz, Zürich 1797. Zitat nach Oettermann (wie Anm. 10), S. 27.
Günther Grundmann, Caspar David Friedrich: Topographische Treue und künstlerische Freiheit, dargestellt an drei Motiven des Riesengebirgspanoramas von Bad Warnbrunn aus. In: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 19 (1974), S. 89–105.
Vgl. hierzu in gleichem Sinne: Müller (wie Anm. 31). Dagegen die Lesarten bei Roswitha Burwick, Verschiedene Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft: Arnim, Brentano, Kleist. In: ZfdPh 107 (Sonderheft 1988), S. 36f. sowie Christian Begemann, Brentano und Kleist vor Friedrichs ›Mönch am Meer‹. Aspekte eines Umbruchs in der Geschichte der Wahrnehmung. In: DVjS 64 (1988), S. 54–95.
Zum Beispiel in einer Version bei Bettina Schulte, Unmittelbarkeit und Vermittlung im Werk Heinrich von Kleists, Göttingen und Zürich 1988.
Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Ungekürzter Text nach der Erstauflage 1832–34, Frankfurt a.M., Berlin und Wien 1980, S. 94f.
Carl von Clausewitz, Strategie aus dem Jahre 1804. In: Ders., Verstreute kleine Schriften. Zusammengestellt, bearbeitet und eingeleitet von Werner Hahlweg, Osnabrück 1979 (Biblioteca Rerum Militarum XLV), S. 1–45, S. 36.
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Schneider, M. (1998). Die Gewalt von Raum und Zeit. In: Blamberger, G. (eds) Kleist-Jahrbuch 1998. Kleist-Jahrbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03755-8_10
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