Zusammenfassung
Heines frühe politische Schrift »Ueber Polen« (1822)1 stellt die Entwicklung der modernen Nationalität auf eine Weise dar, die in der Folgezeit sein Denken über Nationalismus, nationale Identität und die politische Bedeutung von Volkstum oder Ethnizität bis zu seinem Tode bestimmte. Im Rahmen einer umfassenden Ideologie des aufgeklärten Liberalismus hoffte der junge Heine auf eine Umwandlung der Nationen von völkischen oder ethnisch-kulturellen Gemeinschaften zu freiheitlich-kosmopolitischen Gesellschaften. Wie die Menschheit insgesamt, befanden sich auch die Nationen mitten in einer Entwicklung, die sie für neue und höhere Sendungen befreien sollte. Später erkannte Heine, daß der historische Prozeß ein zweites Befreiungsproblem hervorgerufen hatte, nämlich das des schnell im System des Kapitalismus entstehenden Proletariats. Bemüht um eine einheitliche Vorstellung vom Verlauf der Geschichte und um eine entsprechende politische Ideologie, versuchte Heine, die wechselseitigen Beziehungen zwischen der nationalen und proletarischen Problematik zu begreifen. Gleichzeitig setzte Heine sich mit dem unerwarteten Phänomen des anscheinend unaufhaltbaren Aufstiegs des nicht-liberalen deutschen Nationalismus auseinander, dessen Bekämpfung eine immer zentralere Rolle in Heines politischem Denken spielte.
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Anmerkungen
Anna Milska: Henryk Heine. Warschau 1957, S. 207–227;
Waclaw Kubacki: Heinrich Heine und Polen. — In: HJb 5. 1966, S. 90–106;
Maria Kofta: Heinrich Heine und die polnische Frage. — In: Weimarer Beiträge 3. 1960, S. 506–531;
Maria Grabowska: Heine und Polen — die erste Begegnung. — In: Internationaler Heine-Kongreß. Düsseldorf 1972. Referate und Diskussionen, hrsg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1973, S. 349–369.
Ernst Josef Krzywon: Heinrich Heine und Polen. Ein Beitrag zur Poetik der politischen Dichtung zwischen Romantik und Realismus. Köln, Wien 1972, S. 78.
Jost Hermand: Der frühe Heine. Ein Kommentar zu den »Reisebildern«. München 1976. S. 46–47.
Eine Ausnahme bildet der Aufsatz von Martha Wallach: Heine und Polen. — In: »Ich Narr des Glücks«. Heinrich Heine 1797–1856. Bilder einer Ausstellung, hrsg. von Joseph A. Kruse. Stuttgart, Weimar 1997, S. 215–223.
Vgl. u.a. Andrzej Walicki: Philosophy and Romantic Nationalism: The Case of Poland. Oxford 1982; Ders.: The Enlightenment and the Birth of Modern Nationalism. Polish Political Thought from Noble Republicanism to Tadeusz Kosciuszko. Notre Dame, Ind. 1989; Polska. Losy panstwa i narodu, hrsg. von Henryk Samsonowicz u.a. Warszawa 1992.
Weder Heine noch seine späteren Interpreten verstanden, daß die Frage der bäuerlichen Emanzipation unter preußischer Herrschaft nach 1815 keine abstrakt gesetzliche, sondern eine wirtschaftliche war, wobei die schon (seit 1807) persönlich freien Untertanen der adligen Grundbesitzer ihre Höfe im erblichen Besitz durch Entschädigungszahlungen bekamen, was im Posenschen ab 1823 allmählich passierte. Was Heine als adligen Widerstand gegen bäuerliche Emanzipation begriff, war tatsächlich der Unwille der adligen Gutsbesitzer — weitverbreitet in den ostelbischen Ländern —, die Gutswirtschaft auf eine kapitalistische Basis mit Lohn- anstelle von Fronarbeitern umzustellen. Es ging um die Problematik einer frühen agrarischen Form des Proletariats in der kapitalistischen Wirtschaft. Dasselbe Mißverständniß findet sich auch bei Grabowska [Anm 2], S. 365. Vgl. William W. Hagen: Germans, Poles and Jews. The Nationality Conflict in the Prussian East, 1772–1914. Chicago 1980, Kap. 3.
David Friedländer: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden in Polen. Berlin 1819. Zur Problematik des deutsch-jüdischen Verhältnisses im 19. Jahrhundert vgl. u.a. Shulamit Volkov: Die Juden in Deutschland 1780–1918. München 1994;
Hermann Greive: Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland. Darmstadt 1983;
Helmut Berding: Moderner Antisemitismus in Deutschland. Frankfurt/M. 1988. Über die polnischen Juden und das polnisch-jüdische Verhältnis
vgl. Bernard D. Weinryb: The Jews of Poland. A Social and Economic History of the Jewish Community in Poland from 1100 to 1800. Philadelphia, Penn. 1973;
Artur Eisenbach: The Emancipation of the Jews in Poland, 1780–1870. London 1991.
Kofta [Anm. 2], S. 516; Najnowsze dzieje Zydȼw w Polsce, hrsg. von Jerzy Tomaszewski u.a. Warszawa 1993, I. Teil;
Dzieje Zydȼw w Polsce. Ideologia antysemicka 1848–1914, hrsg. von Andrzej Zbikowski. Warszawa 1994;
William W. Hagen: Before the »Final Solution«. Towards a Comparative Analysis of Political Anti-Semitism in Interwar Germany and Poland. — In: The Journal of Modern History 68. 2. 1996, S. 351–381.
Jeffrey L. Sammons: Heinrich Heine. A Modern Biography. Princeton, N.J. 1979; S. 89. Höhn: Heine-Handbuch, S. 147;
Adolf Warschauer: Heinrich Heine in Posen. Posen 1911, S. 14. Raabski [Amn. 13], S. 82.
Vgl. Heines »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland« (1834; DHA VIII/1, 39) und David Sorkin: The Transformation of German Jewry 1780–1840. Oxford 1987.
Walter Grab: Heinrich Heine als politischer Dichter. Frankfurt/M. 21992, S. 157ff. u.ö.
Vgl. Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat (1909). München 1962.
Vgl. auch das wichtige Argument von Helga Schultz: Mythos und Aufklärung. Frühformen des Nationalismus in Deutschland. — In: Historische Zeitschrift 263. 1996, S. 31–67.
Wie bei Sammons und Reeves die Tendenz ist. Vgl. Sammons [Anm. 14], S. 131ff, 330; Nigel Reeves: Heinrich Heine. Poetry and Politics. Oxford 1974, S. 102.
Vgl. Robert C. Holub: Heine and Utopia. — In: HJb 27. 1988, S. 86–112. Holub scheint das utopische Moment in Heines politischem Denken auf Kosten des liberalen überzubewerten.
Zu Heines positivem Verhältnis zum Programm der deutschen Nationaleinheit vgl. Jost Hermand: Eine Jugend in Deutschland. Heinrich Heine und die Burschenschaft. — In: Ders.: Mehr als ein Liberaler. Über Heinrich Heine. Frankfurt/M. 1991, S. 11–28.
Zu diesem Thema sind insbesondere die »Geständnisse« sehr lehrreich. Vgl den »Ersatz-Pogrom« gegen den jungen Heine, als er in der Schule von seinem jüdischen Großvater sprach, wie auch die Gewalttätigkeiten, die er wegen seines Namens — d.h. seiner Identität — erleiden mußte (DHA XV, 75f., 84–86). In dieser Beziehung unterschätzen Robertson [Amn. 26] und Georg Lukács Heines Ängste und Empfindlichkeiten. Vgl. Georg Lukács: Heinrich Heine als nationaler Dichter (1935). — In: Ders.: Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts. Berlin 1952, S. 89–146.
Vgl. dazu Helga Schultz [Anm. 19]; vgl. Jost Hermand: Old Dreams of a New Reich: Volkish Utopias and National Socialism. Bloomington, Ind. 1992 (dt. 1988).
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Hagen, W.W. (1999). Von »heidnischer Nazionalität« zu »christlicher Fraternität« und »allgemeiner Völkerliebe«. In: Kruse, J.A., Witte, B., Füllner, K. (eds) Aufklärung und Skepsis. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03751-0_14
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