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»…es giebt jetzt in Europa keine Nazionen mehr, sondern nur Partheyen«

Heines Europa im Widerstreit von Geschichte und Utopie

  • Chapter
Aufklärung und Skepsis
  • 283 Accesses

Zusammenfassung

Mit guten Gründen hat man Heine als den »ersten konsequenten Europäer unter den deutschen Schriftstellern« bezeichnet.1 Heine selbst hat die europäische Dimension seines Denkens und Schreibens ein Leben lang immer wieder neu in den Blick gerückt. Seine Freiheitsappelle gelten den »großen« und »edeln Herzen«, die für ein »europäisches Vaterland« schlagen2, seine Deutschland-Schriften und seine Parisberichte sind an »allgemein europäischen« Interessen ausgerichtet (HSA XX, 275) und sogar in seinen persönlichen Lebenserinnerungen soll sich noch »das ganze europäische Leben« seiner Epoche spiegeln (HSA XXI, 186). Schon zwei Jahre vor der Juli-Revolution glaubt er daran, daß der Prozeß einer fortschreitenden Europäisierung unaufhaltsam sei. »Täglich« — so proklamiert er in seiner »Reise von München nach Genua« — »verschwinden mehr und mehr die thörigten Nazionalvorurtheile, alle schroffen Besonderheiten gehen unter in der Allgemeinheit der europäischen Civilisazion, es giebt jetzt in Europa keine Nazionen mehr, sondern nur Partheyen3, und es ist ein wundersamer Anblick, wie diese, trotz der mannigfaltigsten Farben […] sich sehr gut verstehen« (DHA VII/1, 69). Ein mündig gewordenes Europa erscheint hier als Fanal des Fortschritts, als Freiheitsversprechen für die ganze Welt:

Was ist aber diese große Aufgabe unserer Zeit? Es ist die Emanzipazion. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipazion der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist, und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelbande der Bevorrechteten, der Aristokratie.

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Anmerkungen

  1. Manfred Wmdfuhr: Zum Verhältnis von Dichtung und Politik bei Heinrich Heine. — In: HJb 24. 1985, S. 109. Als Europäer zeichnet sich Heine nach Albrecht Betz vor allem durch seinen »Umgang mit kulturellen Traditionen, Mythen, Geltungsansprüchen« aus, einem Umgang, der der modernen Erfahrung Rechnung trage, »daß unvereinbare Denk- und Lebensformen durchaus koexistieren, die eigene Identität nach Maßgabe des Möglichen selbst zu entwerfen ist.« Ders.: Der Charme des Ruhestörers. Heine-Studien. Aachen 1997, S. 12.

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  2. Vgl. dazu auch Renate Stauf: Der problematische Europäer. Heinrich Heine im Konflikt zwischen Nationenkritik und gesellschaftlicher Utopie. Heidelberg 1997, S. 5ff.

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  3. Robert Picht: Europa — aber was versteht man darunter? Aufforderung zur Überprüfung der Denkmuster. — In: Merkur 48. 1994, H. 9/10, S. 859.

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  4. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Provinzialismus (IV). Europrovinzialismus. — In: Merkur 45. 1991, H. 11, S. 1062.

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  5. Eine Perspektive, die noch in der aktuellsten französischen Auffassung des deutschfranzösischen Verhältnisses von großer Bedeutung ist: »Ich träume von der Vorherbestimmung Deutschlands und Frankreichs, daß sie durch die geographische Lage und ihre alte Rivalität dazu auserwählt sind, das Signal für Europa zu geben. […] Haben beide Länder in sich das Beste von dem bewahrt, was ich, ohne zu zögern, ihren Instinkt für Größe nennen möchte, werden sie begreifen, daß es sich dabei um ein Projekt handelt, dessen sie würdig sind.« François Mitterand: Über Deutschland, aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Frankfurt/M. 1996, S. 113f.

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  6. »Es ist die Aufgabe der Franzosen, das alte baufällige Gebäude der bürgerlichen Gesellschaft zu zerstören und abzutragen; es ist die Aufgabe der Deutschen, das neue Gebäude zu gründen und aufzuführen. In den Freiheitskriegen wird Frankreich immer an der Spitze der Völker stehen; aber auf dem künftigen Friedenskongresse, wo sich alle Völker Europens versammeln werden, wird Deutschland den Vorsitz fuhren.« Ludwig Börne: Menzel der Franzosenfresser. — In: Ders.: Sämtliche Schriften. Bd. III, neu bearbeitet und herausgegeben von Inge und Peter Rippmann. Düsseldorf 1964, S. 905.

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  7. Friedrich Schiller: Gedichtfragment [Deutsche Größe]. — In: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Weimar 1943ff., Bd. II/1, S. 433.

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  8. Novalis: Die Christenheit oder Europa. — In: Ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Stuttgart 1968, Bd. 3 (Das philosophische Werk II), S. 519.

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  9. Friedrich Hölderlin: Brief an Johann Gottfried Ebel vom 10.1. 1797. — In: Ders.: Werke und Briefe, hrsg. von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt. Frankfurt/M. 1969, Bd. 2, S. 864.

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  10. Friedrich Schlegel: An die Deutschen. — In: Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München, Paderborn, Wien, Zürich 1966, Bd. 5 (Dichtungen), S. 300.

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  11. Das entspricht einer Strategie, die in Utopien prinzipiell Anwendung findet. Vgl. Jörn Rüsen: Utopie und Geschichte. — In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, hrsg. von Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1982, Bd. 1, S. 357f.

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  12. Eine vergebliche Hoflhung, wie sich an dem geringen Echo, das seine Deutschlandschriften in Frankreich fanden, ablesen läßt. So hat man sich z. B. an Heines Warnungen vor dem welterschütternden »deutschen Donner« erst anläßlich des expandierenden Hitler-Deutschlands erinnert und sie in der französischen Presse zitiert. Vgl. Pierre Grappin: Über Heinrich Heines »De l’Allemagne«. — In: »Stets wird die Wahrheit hadern mit dem Schönen«. Festschrift für Manfred Windfuhr zum 60. Geburtstag, hrsg. von Gertrude Cepl-Kaufmann. Köln, Wien 1990, S. 157.

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  13. So stellt Heine zum Beispiel trotz seines lebenslangen Kampfes gegen die ›Partei‹ der Aristokraten nicht das System der Monarchie schlechthin in Frage, sondern nur seine reaktionären und unsozialen Auswüchse. Er hat sogar mehrfach für eine Form der Monarchie plädiert, in der ein Volkskönig oder -kaiser im Interesse des Gemeinwillens den gesellschaftlichen und geistigen Fortschritt zu seiner Richtschnur macht. Vgl. Walter Grab: Heinrich Heine als politischer Dichter. Heidelberg 1982, S. 49.

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  14. Gleichwohl ist er sich der Bedeutung Englands, insbesondere Londons, für Europa stets bewußt. So plante er schon 1838 eine Zeitschrift »Paris — London« oder »London und Paris« (vgl. Volkmar Hansen: Paris gespiegelt in Heines Augen. — In: Rom — Paris — London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen, hrsg. von Conrad Wiedemann. Stuttgart 1988, S. 463) und begründete diese Absicht in einem Brief an Varnhagen damit, daß »Paris und London die Stapelplätze aller poHtischen Bewegungen« seien (HSA XXI, 253).

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  15. Die gescheiterte Hoffnung Europa bedeutet jedoch nicht, daß Heine die Rolle des Widerstands aufgegeben hätte. So sehr er auch seit dem Frühjahr 1848 die äußeren politischen Ereignisse mit seiner persönlichen Krankheits- und Leidensgeschichte parallelisiert, so entschieden glaubt er bis zu seinem Tode — wie sich besonders an der Behandlung des Lazarus-Themas zeigt —, an die zeitüberdauernde und praxisverändernde Kraft seines Dichtens und Schreibens. Vgl. dazu auch Joseph A. Kruse: Heinrich Heine — Der Lazarus. — In: Heinrich Heine, hrsg. von G. Höhn [Anm. 28], S. 258–275 und Dolf Oehler: Ein Höllensturz der Alten Welt. Zur Selbsterforschung der Moderne nach dem Juni 1848. Frankfurt/M. 1988, S. 239–267.

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Joseph A. Kruse Bernd Witte Karin Füllner

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Stauf, R. (1999). »…es giebt jetzt in Europa keine Nazionen mehr, sondern nur Partheyen«. In: Kruse, J.A., Witte, B., Füllner, K. (eds) Aufklärung und Skepsis. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03751-0_12

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03751-0_12

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-01621-8

  • Online ISBN: 978-3-476-03751-0

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

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