Zusammenfassung
Es besteht kein Zweifel daran, welcher Tatsache sich die römische Oberschicht in den etwa zwanzig Jahren zwischen 60 und 40 v. Chr. gegenübersehen mußte: einer Revolution, die vielleicht niemand wollte und zu der jeder beitrug. Eine einmalige Serie von Eroberungen war zur gleichen Zeit der erste Schritt und die eigentliche Voraussetzung dieser Revolution. Enorme Streitkräfte mußten zusammengestellt werden, um im Sertorius-Krieg (80–71 v. Chr.) eine wirksame Kontrolle über Spanien zurückzugewinnen — oder vielleicht erstmals zu gewinnen — und um die römische Herrschaft in Asien bis zum Euphrat über den Ruinen des Seleukidischen Reiches und des einstigen Reiches von Mithridates auszudehnen. Gallien war der Kampfpreis für Caesar, und es gab einen Augenblick im Jahr 54 v. Chr., in dem man sogar Britannien für innerhalb der Reichweite gelegen hielt. Ägypten wurde in jeder praktischen Hinsicht in die Zone römischer Kontrolle gezwungen. Die großen Generale, die die Eroberungen bewerkstelligten — Pompeius und Caesar —, standen einander auch in politischen und militärischen Schlachten gegenüber. Die Beseitigung von Crassus bei der einzigen vollständigen Katastrophe jener Zeit — dem vergeblichen Versuch, Parthien zu besiegen — verschärfte die Rivalität zwischen den beiden überlebenden Mitgliedern des Triumvirates sogar noch.
Auf die vielfältigen Krisenerscheinungen der späten Republik reagierten philosophisch gebildete Mitglieder der römischen Führungsschicht mit diversen Versuchen, die römische Religion als Instrument zur Wiederherstellungpolitischer und sozialer Kohärenz wiederzubeleben. Momigliano stellt in diesem Aufsatz von 1984 vor allem die Unterschiede in den Positionen von Varro und Cicero heraus. Varro hat mit seinen (durch Augustin überlieferten) Antiquitates rerum divinarum, die er ca. 47 v. Chr. vorlegte, eine umfassende Bestandsaufnahme römischer Traditionen präsentiert, die eine Vielzahl schon in Vergessenheit geratener Kulte und Riten wieder in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gebracht hatte. Während Cicero in seinen staatstheoretischen Werken aus dem Jahre 51 v. Chr. in einer selektiven Wiederbelebung religiöser Traditionen eine Chance zur Stabilisierung des Gemeinwesens gesehen hatte, hat er diese Hoffnung in der Schrift De natura deorum aus dem Jahre 45 v. Chr. weitgehend aufgegeben — nach Momiglianos Einschätzung deshalb, weil er sich von den deutlich erkennbaren Bemühungen Caesars distanzierte, seine Herrschaft religiös zu legitimieren.
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Anmerkungen
Es ist der einzige Zweck dieses Aufsatzes (einer meiner Vorträge an der Universität Chicago im Frühjahr 1983), einige Gesichtspunkte zur allgemeinen Neuinterpretation der religiösen Situation des 1. Jahrhunderts v. Chr. beizutragen. Der Aufsatz wurde geschrieben, bevor ich den sehr wertvollen Artikel von J. Linderski, Cicero and Roman Divination, Parola del Passato 36, 1982, 12–38, lesen konnte, mit dem übereinzustimmen mich freut.
Es wäre sinnlos, hier eine Bibliographie über Ciceros religiöses Denken zu geben, doch habe ich manche alte Schuld anzuerkennen, zuerst J. Vogt, Ciceros Glaube an Rom, Stuttgart 1935 (Nd. Darmstadt 1963);
P. Boyancé, Etude sur le Songe de Scipion, Paris 1936;
M. van den Bruwaene, La théologie de Ciceron, Louvain 1937;
W Süß, Cicero: Eine Einführung in seine philosophischen Schriften, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Mainz 1965, Nr. 5, Wiesbaden 1965;
M. Geizer, Cicero, Wiesbaden 1969;
P. Boyancé, Etudes sur l’humanisme cicéronien, Brüssel 1970;
R.J. Goar, Cicero and the State Religion, Amsterdam 1972;
die Beiträge in A. Michel und R. Verdière (Hgg.), Ciceroniana: Hommages à Kazimierz Kumaniecki, Leiden 1975, insbesondere den von J-M. André (La philosophie religieuse de Cicéron: dualisme académique et tripartition varronienne, 11–21) und den von J. Kroymann (Cicero und die römische Religion, 116–128);
A. Heuß, Ciceros Theorie vom römischen Staat, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1975, Nr. 8, Göttingen 1975;
K. Büchner, Somnium Scipionis, Wiesbaden 1976.
Unter den neueren Studien vgl. J. Glucker, Antiochus and the Late Academy, Göttingen 1978;
E. A. Schmidt, Die ursprüngliche Gliederung von Ciceros Dialog »De natura deorum«, Philologus 122, 1978, 59–67;
J.-P. Martin, Providentia deorum, Rom 1982;
K. M. Girardet, Die Ordnung der Welt, Wiesbaden 1983 (über De legibus).
S. auch K. Büchner (Hg.), Das neue Cicerobild, Darmstadt 1971.
S. die Besprechungen von St. Weinstock, Divus Julius, Oxford 1971
durch JA. North, Journal of Roman Studies 65, 1975, 171–177
sowie durch A. Alföldi, Gnomon 47, 1975, 154–179,
und die Besprechung von H. Gesche, Die Vergottung Caesars, Kallmünz 1968
durch A. Alföldi, Phoenix 24, 1970, 166–176;
s. allgemein die neueren Monographien von Z. Yavetz, Caesar in der öffentlichen Meinung, Düsseldorf 1979 (englische Übersetzung 1983)
und von Ch. Meier, Caesar, 2. Aufl. Berlin 1982.
Zu Nigidius Figulus vgl. L. A. El’nickij, Social’no-Politiceskie Aspekty Brontoskopiceskogo Kalendarja P. Nigidija Figula, Vestnik Drevnej Istorii 116, 1971, 107–116;
B. Gallotta, Nuovi Contributi alla conoscenza della cultura romano-italica, Centro Studi e Documentazione sull’ Italia Romana 6, 1974/75, 139–154.
G. Lieberg, Die Theologia Tripartita in Forschung und Bezeugung, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt I 4, Berlin und New York 1973, 63–115;
vgl. J. Pépin, La théologie tripartite de Varron, Revue des Etudes Augustiniennes 2, 1956, 265–294.
Zu den Details muß ich auf einen Aufsatz von E. Norden aus dem Jahr 1921 verweisen, der offenbar als erster die Aufmerksamkeit auf die Passage des Lydos lenkte: E. Norden, Kleine Schriften, Berlin 1966, 282–285.
K. Kumaniecki, Cicerone e Varrone: Storia di una conoscenza, Athenaeum N. S. 40, 1962, 221–243.
H. D. Jocelyn, Varro’s »Antiquitates Rerum Divinarum« and Religious Affairs in the late Roman republic, Bulletin of the John Rylands Library 65, 1982, 148–205.
Vgl. die Aufsätze über Varro von P. Boyancé, gesammelt in: ders., Etudes sur la religion romaine, Rom 1972;
A. Dihle, Zwei Vermutungen zu Varro, Rheinisches Museum 108, 1965, 170–183;
N. Horsfall, Varro and Caesar, Bulletin of the Institute of Classical Studies 19, 1972, 120–128;
P. Boyancé, Les implications philosophiques des écrits de Varron sur la religion romaine, Atti … Congresso Studi Varroniani, Rieti 1976, 137–161. Hinweise auf die Antiquitates Rerum Divinarum sind gesammelt in: B. Cardauns, M. T. Varros »Antiquitates Rerum Divinarum« I-II, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Mainz 1976, Wiesbaden 1976; vgl. ders., Varro und die römische Religion, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II 16, 1, Berlin und New York 1978, 80–103.
Vgl. P. L. Schmidt, Die Abfassungszeit von Ciceros Schrift über die Gesetze, Rom 1965;
E. Rawson, The Interpretation of Cicero’s »De legibus«, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welti 4, Berlin und New York 1973, 334–356.Meine Ansichten über Cicero lassen sich als unabhängige Bestätigung der Ideen von C. Koch ansehen, die in postum veröffentlichen Aufsätzen in: ders., Religio, Nürnberg 1960, bes. 187–204, publiziert sind.
Es wird genügen, auf die drei Kommentare zu Ciceros De natura deorum zu verweisen: von A. S. Pease (Cambridge, Mass. 1955–1958); von M. van den Bruwaene (Brüssel 1970–1981 [IV 1986]) und von W Gerlach und K. Bayer (München 1978). Zu Ciceros De divinatione s. den Kommentar von A. S. Pease (Urbana/Ill. 1920–1923). Mir ist bewußt, daß W Jaeger den Appell an die Autorität der Tradition am Anfang des dritten Buches für den wichtigsten Teil von De natura deorum hielt und in ihm eine Vorwegnahme der christlichen Argumentation mit der Autorität sah — doch war die christliche Basis der Autorität die Offenbarung. Vgl. W. Jaeger, The Problem of Authority and the Crisis of the Greek Spirit, in: Authority and the Individual, Harvard Tercentenary Conference, Cambridge/Mass. 1937, 240–250; von Jaeger selbst zusammengefaßt in: ders., Early Christianity and Greek Paideia, Cambridge/Mass. 1962, 42 und 122.
[S. jetzt M. Beard, Cicero and Divination: the Formation of a Latin Discourse, Journal of Roman Studies 76, 1986, 33–46
und M. Schofield, Cicero for and against Divination, Journal of Roman Studies 76, 1986, 47–65.]
Zu Ovid vgl. R. Schilling, Ovide interprète de la religion romaine, Revue des Etudes Latines 46, 1968, 222–235 (= ders., Rites, cultes, dieux de Rome, Paris 1979, 11–22; vgl. auch ebenda 1–10);
WR. Johnson, The Desolation of the Fasti, Classical Journal 74, 1978, 7–18.
Zum Hintergrund s. G. P. Goold, The Cause of Ovid’s Exile, Illinois Classical Studies 8, 1982, 94–107.
Vgl. W Fauth, Römische Religion im Spiegel der Fasti des Ovid, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II 16, 1, Berlin und New York 1978, 104–186, besonders wegen der Bibliographie
und T Gesztelyi, Ianus bei Ovid: Bemerkungen zur Komposition der Fasti, Acta Classica Universtitatis Scientiarum Debrecensis 16, 1980, 53–59.
J. Gagé, L’Era del principato e le speculazioni astrologiche, in: La rivoluzione romana: Inchiesta tra gli Antichisti, hg. v. A. Guarino u.a., Biblioteca di Labeo 6, Neapel 1982, 222–235.
Vgl. P. Jal, Les Dieux et les guerres civiles, Revue des Etudes Latines 40, 1962, 170–200;
H. Pavis d’Escurac, La Pratique augurale romaine à la fin de la république, in: Religion et culture dans la cité italienne, Straßburg 1981, 27–35.
Die Erwähnung lohnt C. B. Schmitt, Cicero Scepticus: A Study of the Influence of the »Academia« in the Renaissance, Den Haag 1972.
Zu Ciceros De natura deorum in der Renaissance vgl. DP. Walker, The Ancient Theology, London 1972.
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Momigliano, A. (1998). Die theologischen Bemühungen der römischen Oberschichten im 1. Jahrhundert v. Chr.. In: Nippel, W. (eds) Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03682-7_10
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