»Metaphysik der Sitten hab ich gelesen …« Maria von Herberts Briefe an Kant

Zusammenfassung

Auf ihre Existenz hat mich unser Freund, der Philosoph, aufmerksam gemacht, aber ich bin seinem Wink zunächst nicht gefolgt. Aber dann, auf einmal, in einer ganz anderen Gedächtnisspur, ist sie mir entgegengekommen. Beim Wiederlesen des Tagebuchs von Goethes Ottilie, dieser verführerischen Vorgängerin unserer Magersüchtigen, das mir früher immer ein wenig belanglos vorgekommen ist, habe ich plötzlich eine seltsame Anziehungskraft gespürt. Wie sie so selbstverständlich vom Tod spricht, als der Weise eben nur, wie das einzelne Dasein in das Leben der Familie übergeht. Sie kann das so hinschreiben, ohne sich mit dem Gedanken an Auferstehung und Erlösung trösten zu müssen. Sie glaubt an nichts als an die Barmherzigkeit der Zeit…

Neben denen dereinst zu ruhen, die man liebt, ist die angenehmste Vorstellung, welche der Mensch haben kann, wenn er einmal über das Leben hinausdenkt. »Zu den Seinen versammelt werden« ist ein so herzlicher Ausdruck … Wenn man die vielen versunkenen, die durch Kirchgänger abgetretenen Grabsteine, die über ihren Grabmälern selbst zusammengestürzten Kirchen erblickt, so kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweites Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der Überschrift eintritt und länger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben. Aber auch dieses Bild, dieses zweite Dasein verlischt früher oder später. Wie über die Menschen, so auch über die Denkmäler läßt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen (Die Wahlverwandtschaften, 2. Teil, 2. Kapitel).