Zusammenfassung
Heinrich von Kleist war ›chauvinistisch‹ und frauenfeindlich, sein Geschlechterbild schematisch-starr, sein Liebesbegriff vollkommen rationalistisch fundiert — zugegeben, zu einem solchen Urteil könnte man sich wohl durch den Briefwechsel mit Kleists Verlobter Wilhelmine von Zenge und durch einige wenige der frühen Schreiben an die Halbschwester Ulrike leicht verfuhren lassen. Und tatsächlich hat die Kleist-Forschung anhand dieser auch zeitlich begrenzten Brief-Auswahl (1799 bis 1802) bereits seit langem und einigermaßen kontinuierlich immer wieder die männliche Selbstüberhebung kritisiert, eine Entindividualisierung der Frau sowie ihre Degradierung zur bloßen Funktionsträgerin registriert und gerade im Vergleich zur übrigen Korrespondenz einen besonders emotionslosen Ton festgestellt.1
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Anmerkungen
Zur Öffentlichkeit des Privatbriefes im 18 Jahrhundert und zur Konstitution von Briefrollen vgl. etwa Peter Bürgel, »Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells«, Deutsche Viertel)ahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 283,
sowie Karlheinz Bohrer, Der romantische Brief Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, München 1987, S. 18 und S. 47. Für Kleist: Hans Jürgen Schrader, » ›Denke Du wärest in das Glück meines Schiffes gestiegen‹. Widerrufene Rollenentwürfe in Kleists Briefen an die Braut«, Kleist-Jahrbuch 1983, S. 122–179.
Vgl. Karin Hausen, »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienebenen«, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363,
sowie Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a. M./NewYork 1992, S. 172–235.
Um 1800 kursierten zahlreiche Schriften und Handbücher, die — obwohl zuweilen auch ganz gegensätzlich motiviert — belegen, wie verbreitet und kulturell akzeptiert dieser »Forschungsstand« und das polarisierte Geschlechterbild gewesen ist. Ganze Qualitätskataloge finden sich dort aufgeführt, die dem Geschlechtscharakter der Frau zugeordnet werden und in der Regel nur über Gegensatzbildung das männliche Geschlecht erschließen lassen. Vgl. etwa Ernst Brandes, Über die Weiber, Leipzig 1787, S. 23–25, S. 39/40, S. 55/56, S. 65,
Ernst Brandes, Betrachtungen über das weibliche Geschlecht und dessen Ausbildung in dem geselligen Leben, Hannover 1802, S. 7, S. 142/143.
Johann Ludwig Ewald, Die Kunst ein gutes Mädchen, eine gute Gattin, Mutter und Hausfrau zu werden. Ein Handbuch für erwachsene Töchter, Gattinnen und Mütter, Bremen 1798, S. 17.
Theodor Gottlieb von Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, Berlin 1792, S. 381.
Theodor Gottlieb von Hippel, Über die Ehe, viel vermehrte Aufl., Berlin 1793, S. 85/86.
Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre in zwei Teilen, Jena und Leipzig 1796 und 1797, S. 164/165, S. 166/167.
Jakob Mauvillon, Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert. Ein Gegenstück zu der Schrift: Über die Weiber, Leipzig 1791, S. 14.
Helmut Sembdner, Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, Erw. Neuausgabe, Frankfurt a. M. 1977, Dok. 81c, S. 66–69 und Dok. 60c, S. 49/50. Die Schilderung von Ulrikes Reise ist allerdings ihren Selbstaussagen entnommen und daher etwas vorsichtig zu betrachten.
Zur empfindsamen Kommunikation vgl. Gerhard Sauder, Empfindsamkeit, Bd. I: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974, und Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Geschichte des 18. Jahrhunderts, München 1988, S. 46 und S. 42.
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, Frankfurt a. M. 1968, S. 608–613.
Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982, S. 170–175.
Vgl. Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und vom Weib 1750–1850, Frankfurt a. M./New York 1991, S. 4,
und Anne Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbstständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1110 und 1840, Göttingen 1996.
Christian Ernst Wünsch, Kosmologische Unterhaltungen für junge Freunde der Naturerkenntniß, Bd. II: Von den Eigenschaften der irdischen Körper und von den Naturbegebenheiten auf Erden, 2. Aufl., Leipzig 1794, S. 725/726.
Pierre Bourdieu, »La domination masculine«, Actes de la recherche en sciences sociales 34 (1990), S. 3–31.
Zur Mädchenbildung im 18. Jahrhundert vgl. Dagmar Grenz, Mädchenliteratur: von den moralisch-belehrenden Schriften im 18. Jahrhundert bis zur Herausbildung der Backfischliteratur im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1981, S. 21, Ewald (Anm. 5), S. 86/87, Brandes, Über die Weiber (Anm. 5), S. 184.
Peter Horn, Kleist-Chronik, Königsstein i.Ts. 1980, S. 32–36.
Paul Derks, Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750–1850, Berlin 1990, S. 79–88.
Anders Heinrich Detering, Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann, Göttingen 1994, S. 121, der die »Homoerotik« aus dem Pfuel-Brief gerade in anderen Texten fortgesetzt sieht wobei jedoch die Schlüssigkeit seiner Argumentation auf eine Unscharfe seines Begriffs von »Homoerotik« gebaut ist, die zwischen Homosexualität und empfindsamer, intellektualisierter Sinnlichkeit unter Männern nicht trennt. Derks (Anm. 20), S. 432, hingegen betont gerade die Diskontinuität der Kleistschen Homosexualität.
Zur Geschwisterliebe als romantischem Modell vgl. James B. Twitchell, Forbidden Partners. The Incest Taboo in Modern Culture, New York 1987,
und Christina von Braun, Die schamlose Schönheit des Vergangenen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Geschichte, Frankfurt a. M. 1989.
Marjorie Gelus, »Josephe und die Männer. Klassen- und Geschlechteridentitäten in Kleists ›Erdbeben in Chili‹ «, Kleist-Jahrbuch 1994, S. 120/121, etwa hat jüngst — ohne der Diskrepanz jedoch weiter nachzugehen — für Kleists Texte eine »innere Spaltung in einen standhaften Verfechter patriarchaler Normen einerseits und in einen subversiven androgynen Zerstörer festgefugter Bedeutungen andererseits« konstatiert.
Vgl. Anneliese Maugue, L’identité masculine en crise. Au tournant du siècle 1871–1914, Paris/Marseille 1987. Elaine Showalter, Sexual Anarchy. Gender and Culture at the Fin de Siècle, New York 1990.
Jaques le Rider, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien 1990.
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Herrmann, B. (1997). Auf der Suche nach dem sicheren Geschlecht: die Briefe Heinrich von Kleists und Männlichkeit um 1800. In: Erhart, W., Herrmann, B. (eds) Wann ist der Mann ein Mann?. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03664-3_10
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Online ISBN: 978-3-476-03664-3
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