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»Es gibt eine doppelte Ästhetik« — Décadence-Kritik und großer Stil beim Apolloniker Nietzsche

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Die doppelte Ästhetik der Moderne
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Zusammenfassung

In den kunstphilosophischen Spekulationen des deutschen Idealismus sind die vertrauten Oppositionen als verschiedene Entfaltungsformen des Schönen unschwer wiederzuerkennen, und zwar entweder als historische bei Hegel [119] oder als systematische bei Weiße [120] und Vischer[121]. Das Klassische steht gegen das Romantische und das Schöne als sinnliches Scheinen der Idee gegen die symbolische, Hegel will sagen: allegorische Kunstform [122] des Erhabenen. In vollendeter Weise wird der ›Kreislauf‹ des ästhetischen, genauer: kallistischen Systems bei Vischer formuliert, der die Gliederung seiner Dissertation Über das Erhabene und Komische (1837) der dialektischen Bewegung anschmiegt: »Dieser erste [allgemeine] Teil hat zuerst von dem einfach Schönen zu handeln, sodann zweitens von dem Gegensatze im Schönen oder vom Kontraste, worunter das Erhabene und Komische begriffen ist, und fürs dritte hat er nachzuweisen, wie das Schöne aus diesem Kreislaufe in sich als erfüllte und vermittelte Einheit zurückkehrt.« [123] Den Preis, daß das idealistische System sich rundet, hatte freilich schon Hegel selbst vorgerechnet. Ihm gelingt die Beruhigung der Ästhetik zur ›Philosophie der schönen Kunst‹ nur dadurch, daß er die dynamischen Momente des Sublimen ausblendet und den dergestalt gereinigten Begriff des Erhabenen als ›symbolische Kunstform‹ an den Anfang der historischen Entfaltungsformen des Schönen stellt. Erkauft ist der klassizistische Rückgewinn der Schönheit und ihre Erhöhung zum sinnlichen Scheinen der Idee mit dem Satz vom Ende der Kunst (Ästhetik, I 23–25) und mit der Verachtung der romantischen Literatur, weil in ihr dem Zufälligen und Gewöhnlichen, kurz: dem »Unschönen« ein ungeschmälerter Spielraum (Ästhetik, II 139) eingeräumt werde.[124]

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Notizen

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Zelle, C. (1995). »Es gibt eine doppelte Ästhetik« — Décadence-Kritik und großer Stil beim Apolloniker Nietzsche. In: Die doppelte Ästhetik der Moderne. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03632-2_12

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