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Mythen-Politik

Die Nibelungen in der Weimarer Republik

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Richard Wagner — »Der Ring des Nibelungen«
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Zusammenfassung

Ein jüdischer Obersekundaner, so schreibt der Berliner Gymnasiallehrer Martin Havenstein am 31.12.1930 an seinen Frankfurter Kollegen Otto Schumann1, habe kürzlich in einem Aufsatz Siegfried, und zwar den Heb-belschen Siegfried, dreist verspottet. Dabei sei die Behandlung des Stoffs in der Hebbelschen Bearbeitung schon eine Konzession an den Zeitgeist gewesen, denn, so fährt Havenstein fort, »das Nibelungenlied wagen die Herren den Klassen mit mehr als 50 Prozent Juden (solche haben wir reichlich) gar nicht mehr darzubieten. Und das hängt am Ende doch damit zusammen, daß diese alten Dinge mehr zu unserem Blute reden als zu israelischem Geiste.« Schumann gibt in seinem Antwortschreiben an Havenstein zu bedenken, »daß ein sehr großer Prozentsatz auch unserer nichtjüdischen Schüler froh wäre, wenn man sie nicht mit mittelhochschdeutsch plagte. Und« - so fragt er - »ist das denn so wunderbar und ist es denn so schlimm?«2 Gerade das Nibelungenlied werde in der Schule zu früh behandelt, denn die Obersekundaner seien für diese Thematik eigentlich noch nicht reif. »Die Jungen mausern sich auf dieser Stufe doch gerade erst aus den Flegeljahren heraus. Und wenn einmal einer den Hebbelschen Siegfried dreist verspottet, dann nehme ich das auch nicht tragisch. … Nun ist gewiß eine solche kritische Stellungnahme bei den Juden im Durchschnitt häufiger als bei uns.

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Notizen

  1. Vgl. Otfried Ehrismann, Das Nibelungenlied in Deutschland. Studien zur Rezeption des Nibelungenlieds von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, München 1975;

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Münkler, H. (1995). Mythen-Politik. In: Bermbach, U., Borchmeyer, D. (eds) Richard Wagner — »Der Ring des Nibelungen«. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03614-8_10

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03614-8_10

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