Zusammenfassung
An den Erzählungen und Romanen Adalbert Stifters wird bereits seit längerem ihre besondere Schwierigkeit, ihre Undurchdringlichkeit und Resistenz gegenüber der Interpretation hervorgehoben,1 ohne daß diese daraus nennenswerte Konsequenzen gezogen hätte. Die Beobachtung der Hinter-, ja Abgründigkeit Stifters, wie sie schon Thomas Manns berühmtes Diktum prägt,2 ist Teil einer differenzierenden Revision der jahrzehntelang vorherrschenden unkritisch verehrenden, fast hagiographischen Haltung der Stifter-Literatur zu ihrem Gegenstand und hat sich zumindest in einem oberflächlichen Sinne inzwischen durchgesetzt. Statt solchen Feststellungen noch einmal eine gleichartige an die Seite zu setzen, unternimmt diese Arbeit den Versuch, das Faktum selbst und seine textuelle Genese zu beschreiben. Der Widerstand, den Stifters Texte einem hermeneutisch ausgerichteten ›Verstehen‹ entgegensetzen, das heißt der (Re)Konstruktion einer Sinneinheit, in die möglichst alle Details integrierbar sind, gründet darin, daß sie eine solche Sinneinheit nicht sind. Gewiß verfolgt der Autor Stifter beim Schreiben Intentionen, und er hat sie -wenn es denn wirklich die seinen sind — immer wieder in Worten artikuliert, deren religiöse und moralische Sättigung den mehr an Erbauung als an Erkenntnis interessierten Bestrebungen der älteren Stifter-Forschung Vorschub geleistet haben.3
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Notizen
Pars pro toto seien zitiert: Fritz Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848–1898, 4. Aufl. Stuttgart 1981, S. 502: »Der Dichter des ›klassischen‹ Maßes ist der Schwierigste, Undurchdringlichste in dieser an vielschichtigen Individualitäten reichen Zeit.« — Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, 3 Bde., Stuttgart 1971f., 1980, Bd. 3: Die Dichter, S. 954: »Er ist, alles in allem, einer der rätselhaftesten Dichter dieser an seltsamen und tiefen Gestalten so reichen Literaturperiode. / Stifter entzieht sich jeder einseitigen Interpretation, ganz gleichgültig, ob diese katholisch oder humanistisch, stammestümelnd oder psychoanalytisch, naturalistisch oder formalistisch ist.« — Vgl. ferner das schöne »Nachsommer«-Kapitel bei Peter von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München / Wien 1989, S. 145: »Wer nicht weiß, daß er mit ihm nicht fertig wird, sollte sich ohnehin nicht auf Stifter einlassen, sei er nun dessen Verehrer oder Verächter oder beides durcheinander.«
»Seltener ist beobachtet worden, daß hinter der stillen, innigen Genauigkeit gerade seiner Naturbetrachtung eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen wirksam ist […] Stifter ist einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur, kritisch viel zu wenig ergründet.« Thomas Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus [1949], in: ders., Doktor Faustus. Die Entstehung des Doktor Faustus, Frankfurt / Main 1967, S. 773f.
Werner Hamacher, Unlesbarkeit. Einleitung zu: Paul de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt / Main 1988, S. 7–26, hier S. 9.
Wiederum nur exemplarisch verweise ich auf das Kapitel »Les paradoxes de Stifter« bei Jean-Louis Bandet, Adalbert Stifter. Introduction à la lecture de ses nouvelles, Rennes 1974, S. 211–239. Adalbert Stifter, so schreibt auch Bandet, »apparaît […] comme Tun des auteurs les plus énigmatiques de la littérature de langue allemande« (7). Als richtungweisend darf hier gelten: Martin Swales, Litanei und Leerstelle. Zur Modernität Adalbert Stifters, in: VASILO 36 (1987), S. 71–82.
Ein Forschungsbericht ist hier nicht beabsichtigt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien in diesem Zusammenhang nur einige seit den 60er Jahren entstandene Arbeiten genannt, auf deren zum Teil beträchtliche Differenzen nicht eingegangen werden soll. Herman Meyer, Der Sonderling in der deutschen Dichtung [1963], Frankfurt / Berlin / Wien 1964, S. 163–189.
Friedbert Aspetsberger, Stifters Tautologien, in: VASILO 16 (1966), S. 23–44.
Wilhelm Dehn, Ding und Vernunft. Zur Interpretation von Stifters Dichtung, Bonn 1969.
Christoph Buggert, Figur und Erzähler. Studie zum Wandel der Wirklichkeitsauffassung im Werk Adalbert Stifters, München 1970.
Hans Dietrich Irmscher, Adalbert Stifter. Wirklichkeitserfahrung und gegenständliche Darstellung, München 1971.
Martin Selge, Adalbert Stifter. Poesie aus dem Geist der Naturwissenschaft, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1976.
Ursula Naumann, Adalbert Stifter, Stuttgart 1979, S. 24, 26. Zur Forschungslage überhaupt verweise ich auf die in der Bibliographie (Abschnitt 2) genannten Arbeiten, insbesondere auf die verdienstvollen Forschungsberichte von Herbert Seidler.
Theodor W. Adorno, Voraussetzungen. Aus Anlaß einer Lesung von Hans G. Helms [1960], in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt / Main 1981, S. 431–446, hier S. 433.
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Begemann, C. (1995). Einleitung. In: Die Welt der Zeichen. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03598-1_1
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