Zusammenfassung
Tabubrechende erotische Akte, ausgezehrte und zerschundene Körper, schonungslos entblößte Selbstporträts — dies dürften die Bilder sein, die sogleich vor dem geistigen Auge erscheinen, denkt man an den früh verstorbenen Expressionisten Egon Schiele (1890-1918). Daß der junge Österreicher sich während seiner kurzen, ein knappes Jahrzehnt währenden künstlerischen Laufbahn auch mit dem Thema Mutter und Kind kontinuierlich auseinandersetzte und vor allem in seiner Frühzeit mit großem Engagement an diesem Bildthema arbeitete, ist hingegen kaum in ein breiteres Bewußtsein vorgedrungen. Selbst Menschen, die sich professionell mit Kunst beschäftigen, kennen diese Facette seiner Arbeit nicht immer. Zwar sind die Mutter-Kind-Darstellungen keineswegs gänzlich ignoriert worden, doch spielen sie im häufig populärwissenschaftlich geführten, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs um den Maler und Zeichner bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Unter ihnen wurde allein der Toten Mutter aus dem Jahre 1910 (Abb. 6) eine gewisse Berühmtheit zuteil. Schiele selbst empfand die Bedeutung dieses Gemäldes schon kurz nach dessen Vollendung: Er wisse nun, daß es eines seiner besten sei, schrieb der Künstler im Frühjahr des darauffolgenden Jahres an seinen Entdecker, Betreuer und Freund, den Kunstkritiker Artur Roessler1.
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Notizen
Siehe Christian M. Nebehay: Egon Schiele 1890–1918. Leben, Briefe, Gedichte. Salzburg, Wien: Residenz Verlag 1979, S. 176.
Siehe Kathrin Hoffmann-Curtius: Frauenbilder Oskar Kokoschkas. In: Frauen. Bilder. Männer. Mythen, hrsg. von Ilsebill Barta u.a. Berlin: Dietrich Reimer 1987, S. 148–178, dort besonders S. 148–155.
Artur Roessler: Erinnerungen an Egon Schiele. Wien: Wiener Volksbuchverlag 1948, S. 62–63.
Siehe Rudolf Leopold: Egon Schiele. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen. Salzburg: Residenz Verlag 1972, S. 557.
Zitiert nach Gianfranco Malafarina: Egon Schiele. Die Hauptwerke. Wien, Genf, New York: Lechner Verlag 1990, S. 32.
Salomón Grimberg: Frida Kahlos Einsamkeit. In: Frida Kahlo. Das Gesamtwerk, hrsg. von Helga Prignitz-Poda, Salomón Grimberg und Andrea Kettenmann. Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik 1988, S. 11–22.
Erich Neumann: Die Große Mutter. Der Archetyp des Großen Weiblichen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1957, S. 56.
Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1986, S. 157–158.
Siehe Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1994, S. 187–188.
Siehe dazu ausführlicher Stephen T. Walrod: Egon Schiele. A Psychobiography. Diss. phil. Berkeley 1978, S. 63–64.
Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Wien, Leipzig: Wilhelm Braumüller 161917, S. 142, S. 144 und S. 297.
William Shakespeare: Macbeth. Stuttgart: Philipp Reclam Jun. 1980, S. 49 und S. 2.
Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser. 4 Bände. Bd. 4.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 438.
E. Ann Kaplan: Motherhood and Representation. The Mother in Popular Culture and Melodrama. London, New York: Routledge 1992, S. 204 und S. 203.
Siehe Ursula Schmidbauer-Schleibner: Mutterschaft und Psychoanalyse. In: Frauen und Mütter. Beiträge zur 3. Sommeruniversität von und für Frauen 1978. Berlin: Basis Verlag 1979, S. 351–378, dort besonders S. 365.
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Hansmann, D. (1996). Die Tötung des Weiblichen im männlichen Schöpfungsmythos. Zu den »toten Müttern« bei Egon Schiele. In: Möhrmann, R., Mrytz, B. (eds) Verklärt, verkitscht, vergessen. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03596-7_10
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