Zusammenfassung
In Gesprächen und autobiographischen Skizzen hat sich Marieluise Fleißer in den letzten Lebensjahren wiederholt ihrer Anfänge als Schriftstellerin erinnert. Einen besonderen Platz räumte sie bei diesen Erinnerungen neben Bertolt Brecht ihren frühen Begegnungen mit Lion Feuchtwanger ein. Im Jahre 1922 hatte sie Feuchtwanger beim »Künstlerfasching« im »Steinickesaal in Schwabing« kennengelernt; über die Folgen dieser Begegnung schreibt Fleißer: »Ich brachte ihm alles, was ich schrieb. Und was noch wichtiger war, er las es, obwohl er Vieles von anderen zurückwies. Was ich ihm brachte, nannte er Expressionismus und Krampf. Mit meinen zweiundzwanzig Jahren dürfe ich zwar den Krampf noch schreiben. Aber es komme jetzt eine andere Richtung auf, die sachlich sei und knapp, in ihren Umrissen deutlich, und daran müsse ich mich halten.«2 An anderer Stelle notiert Fleißer beinahe gleichlautend, Feuchtwanger habe ihre Texte als »Expressionismus und Krampf« bezeichnet und anschließend dekretiert, »heute schreibe man ›neue Sachlichkeit«.3 Der Eindruck, den der schon arrivierte ältere Kollege auf die Nachwuchsautorin machte, war offenkundig bedeutend, denn »aus Zorn«, so berichtet Fleißer, habe sie daraufhin alle ihre Texte verbrannt4 und sich fortan »bemüht, das zu schreiben, was ich mir unter Neuer Sachlichkeit vorstellte«5.
»Wenn […] ein wirklicher Schriftsteller diese neue Sachlichkeit anwendet, dann ist sie für ihn Mittel, nicht Selbstzweck.«1
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Anmerkungen
Lion Feuchtwanger: Historischer Roman — Roman von heute! In: Berliner Tageblatt, 15. Nov. 1931;
zit. nach: Anton Kaes (Hrsg.): Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918–1933. Stuttgart 1983, S. 343–345, hier S. 344.
Marieluise Fleißer: Aus der Augustenstraße. In: Dies.: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Günther Rühle. Bd. 2, Frankfurt/Main 1972, S. 309–314, hier S. 309;
Marieluise Fleißer: Notizen. In: Günther Rühle (Hrsg.): Materialien zum Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer. Frankfurt/Main 1973, S. 411–428, hier S. 413;
Günther Rühle: Jene Zwanziger Jahre. Ein Gespräch mit Marieluise Fleißer. Manuskript einer Sendung im Deutschlandfunk vom 11. März 1973;
zit. nach: Eva Pfister: »Unter dem fremden Gesetz«. Zu Produktionsbedingungen, Werk und Rezeption der Dramatikerin Marieluise Fleißer. Diss. masch. Wien 1981, S. 36.
Lion Feuchtwanger: Selbstdarstellung [1933]. In: Ders.: Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt/Main 1984, S. 356–361, hier 358.
Reinhold Jaretzky: Lion Feuchtwanger. Reinbek bei Hamburg 41993, S. 50.
So Reinhold Jaretzky in seinem Überblick: Lion Feuchtwanger und die Neue Sachlichkeit. In: German Studies in India 10 (1986), S. 27–34 u. 55–70, hier S. 28. — Vgl. zu diesem Thema auch Klaus Modick: Lion Feuchtwanger im Kontext der zwanziger Jahre: Autonomie und Sachlichkeit. Kronberg/Ts. 1981, bes. Kap. IV.
Eine solche Feststellung wäre auch insofern problematisch, als es an einer umfassenden, Begrifflichkeiten, Textkanon etc. klärenden Darstellung zur Literatur der Neuen Sachlichkeit bislang fehlt. (Eine entsprechende Monographie mit einer Dokumentation wird z.Zt. von Sabina Becker vorbereitet.) Nach wie vor sind die folgenden Arbeiten vor allem der 70er Jahre für die Beschäftigung mit der Neuen Sachlichkeit wichtig: Horst Denkler: Sache und Stil. Die Theorie der neuen Sachlichkeit und ihre Auswirkungen auf Kunst und Dichtung. In: Wirkendes Wort 3 (1969), S. 167–185;
ders.: Die Literaturtheorie der zwanziger Jahre. Zum Selbstverständnis des literarischen Nachexpressionismus. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 59/4 (1967), S. 305–319;
Helmut Lethen: Neue Sachlichkeit 1924–1932. Studien zur Literatur des »Weißen Sozialismus«. Stuttgart 1970;
Bernd Witte: Neue Sachlichkeit. Zur Literatur der späten zwanziger Jahre in Deutschland. In: Études germaniques 27 (1972), S. 92–99;
Karl Prümm: Neue Sachlichkeit. Anmerkungen zum Gebrauch des Begriffs in neueren literaturwissenschaftlichen Publikationen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 91 (1972), S. 606–616;
ders.: Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918–1933). Gruppenideologie und Epochenproblematik. 2 Bde. Kronberg/Ts. 1974;
Jost Hermand: Einheit in der Vielheit? Zur Geschichte des Begriffs Neue Sachlichkeit. In: Keith Bullivant: Das literarische Leben in der Weimarer Republik. Königstein/Ts. 1978, S. 71–88;
Klaus Petersen: Neue Sachlichkeit: Stilbegriff, Epochenbezeichnung oder Gruppenphänomen? In: DVjs 56 (1983), S. 463–477;
Helmut Lethen: Neue Sachlichkeit. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 9. Hrsg. v. Alexander von Bormann u. Horst Albert Glaser. Reinbek bei Hamburg 1983, S. 168–179.
Lion Feuchtwanger: Von den Wirkungen und Besonderheiten des angelsächsischen Schriftstellers [1928]. In: Ders.: Ein Buch nur für meine Freunde, S. 417–421, hier S. 421.
Vgl. dazu die Studie von Carl Wege: Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger: »Kalkutta, 4. Mai«. Ein Stück Neue Sachlichkeit. München 1988.
Lion Feuchtwanger: Kalkutta, 4. Mai. Drei Akte Kolonialgeschichte. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 16: Dramen II. Hrsg. u. mit einem Nachwort v. Hans Dahlke. Berlin, Weimar 1984, S. 207–279, hier S. 225.
Frank Dietschreit: Lion Feuchtwanger. Stuttgart 1988, S. 26. — Siehe zu den Petroliuminseln neuerdings Bernhard Spies: Konkurrenz und Profit als zeitgemäße Lebenswelt. Illusionslosigkeit und Idealismus im Drama der Neuen Sachlichkeit. In: literatur für leser 13/1 (1992), S. 51–65, bes. S. 55–59.
Lion Feuchtwanger: Nachwort des Autors [zu Pep] 1957. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 14, Berlin, Weimar 21985, S. 248f., hier S. 248.
Lethen: Neue Sachlichkeit (1970), S. 46.
vgl. zu den Kürzungen in früheren Ausgaben das Nachwort von Gisela Lüttig, ebd., S. 781–783. — Zur Interpretation des Romans sind vor allem folgende monographische Arbeiten wichtig: Joseph Pischel: Lion Feuchtwangers »Wartesaal«-Trilogie. Zur Entwicklung des deutschen bürgerlich-kritischen Romans in den Jahren 1918–1945. Diss, masch. Rostock 1966;
Synnöve Clason: Die Welt erklären. Geschichte und Fiktion in Lion Feuchtwangers Roman »Erfolg«. Stockholm 1975;
Egon Brückener, Klaus Modick: Lion Feuchtwangers Roman »Erfolg«. Leistung und Problematik schriftstellerischer Aufklärung in der Endphase der Weimarer Republik. Kronberg/Ts. 1978;
Wolfgang Müller-Funk: Literatur als geschichtliches Argument. Zur ästhetischen Konzeption und Geschichtsverarbeitung in Lion Feuchtwangers Romantrilogie »Der Wartesaal«. Frankfurt/Main, Bern 1981. — Weitere Literatur verzeichnet Dietschreit: Lion Feuchtwanger, S. 52f.
Lion Feuchtwanger: Der Roman von heute ist international [1932]. In: Ders.: Ein Buch nur für meine Freunde, S. 422–427, hier 424f.
Vgl. dazu Klaus Modick: L.F. als Produzent. Über die kuriosen, eigentümlichen, ja wunderlichen Methoden des Dr. Feuchtwanger. In: Text + Kritik, Heft 79/80: Lion Feuchtwanger. München 1983, S. 5–18.
Siehe dazu die an Müller-Funk anschließenden Überlegungen von Hans-Harald Müller: Lion Feuchtwanger: »Erfolg« (1930). In: Paul Michael Lützeler (Hrsg.): Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen. Königstein/Ts. 1983, S. 167–182.
Celsus [d.i. Carl von Ossietzky]: »Erfolg« ohne Sukzeß. In: Die Weltbühne, 11. Nov. 1930;
zit. nach: Carl von Ossietzky: Rechenschaft. Publizistik aus den Jahren 1913–1933. Frankfurt/Main 1972, S. 131–133.
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Weiß, C. (1995). »Gestaltung des unmittelbar Greifbaren«. In: Becker, S., Weiß, C. (eds) Neue Sachlichkeit im Roman. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03575-2_16
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