Zusammenfassung
Karl Wilhelm Jerusalem, das historische Urbild von Goethes Werther-Figur, beging am 30.10.1772 Selbstmord. Als Legationssekretär war er am Wetzlarer Reichskammergericht tätig gewesen. Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten und eine unerfüllte Liebesleidenschaft ließen ihn in eine zum Suizid führende Depression geraten. So wird es in der Literaturgeschichte berichtet, und hätte Goethe über diese Begebenheit nicht einen der wichtigsten Romane des 18. Jahrhunderts geschrieben, würde sich heute vermutlich niemand mehr an Jerusalem erinnern. Daß Lessing zu seinen Freunden zählte, wäre dann ebenso marginal wie die Tatsache, daß er einige wenige Aufsätze geschrieben hat. Allerdings rückt das Marginale ins Licht der Aufmerksamkeit, wenn man den Spuren des Leidenschaftsdiskurses auch in die Ränder hinein folgt. Dort findet sich die axiomatisch vorgetragene Kontrafaktur zur Lebenswirklichkeit. „Tugend […] ist die Beherrschung unserer Leidenschaften durch die Vernunft”1 hatte Jerusalem in seinen Philosophischen Aufsätzen geschrieben, die — wenn man Johann Christian Kestners Bericht vom 2.11.1772 an Goethe über Jerusalems Tod folgt — neben Lessings Emilia Galotti auf dem Pult lagen. Der konsternierte Kestner blättert zwax in dem fingerdicken Manuskript, „um zu sehen, ob der Inhalt auf seine letzte Handlung einen Bezug habe, fand es aber nicht”2.
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Luserke, M. (1995). Die Zirkulation aller Bedürfnisse: Goethes Werther. In: Die Bändigung der wilden Seele. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03573-8_12
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Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-01274-6
Online ISBN: 978-3-476-03573-8
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