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Fichtes Frühphilosophie

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Zusammenfassung

Fichte begegnet schon vom Ansatz seiner Philosophie her dem Verdacht einer substantialen Auslegung des Ich. Er tritt nicht nur dem Versuch, das Ich auf ein substantiell Erstes hin zu überfragen, entgegen. Eine ebenso entschiedene Absage erteilt er der Vorstellung, die apriorische Selbstgewißheit eines zugrundeliegenden Ich könne als schlechthin vorhanden vorausgesetzt werden und tauge so zur Basis epistemisch verbindlicher Erkenntnissicherung. Fichte läßt keinen Zweifel daran, daß diese Voraussetzung170, auf die sich die cartesianische Tradition als ein unhintergehbares Fundament aller Erkenntnis171 beziehen zu können glaubte, ihrerseits substrathafte Züge trägt und vorhandenheitsontologische Reminiszenzen weckt. Der Impetus, substanzmetaphysische Anleihen zu vermeiden, tritt bei Fichte aber nicht nur in dieser Kritik zutage. Er schlägt vor allem und eklatanterweise auf die Struktur zurück, die er als principium und definiens der GWL (1794) zugrunde legt: Die auf dem Boden praktischer Philosophie entworfene Idee der »Tathandlung« lebt geradezu davon, substrathafte Fixierungen, wenn auch nicht auszuschalten und aufzuheben, so doch ihnen nicht unterworfen, sondern entzogen zu sein. Sie widerstreitet einer substantialen Auslegung vor allem in der Hinsicht, daß sie die Bedeutung absoluter Substantialität, verstanden als Hypostase in sich verharrender Beständigkeit, ins gerade Gegenteil verkehrt.

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Notizen

  1. Vgl. Aristoteles, Met., 983b 7 Aristoteles kennzeichnet diejenige Form des Anfangs als arché, die nicht zufällig am Anfang steht, sondem die im Sinne eines Prinzips über den weiteren Fortgang entscheidet. Klaus Heinrich hat dieser ursprungslogischen Figur eine eingehenden Untersuchung gewidmet. Vgl. K. Heinrich, Tertium datur. Dahlemer Vorlesungen I, Ffm. 1981, S. 60ff.

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  2. D. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. In: Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für W. Cramer. Frankf. 1966, S. 188ff.

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  3. Vgl. K. Cramer: » Erlebnis«. Thesen zu Hegels Theorie des Selbstbewußtseins mit Rücksicht auf die Aporien eines Grundbegriffs nachhegelscher Philosophie. In: Stuttgarter Hegeltage 1970. Hrsg. H: G. Gadamer. Bonn 1974, S. 537–603

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  4. J. Stolzenberg. Fichtes Begriff der Intellektuellen Anschauung. Stuttgart 1986, S. 175ff.

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  5. D. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. In: Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für W. Cramer. Frankf. 1966, S. 211f.

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  6. D. Henrich: Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie. In: Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze I. Hrsg. R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (FSH. — G. Gadamer). Tübingen 1970, S. 257ff.

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  7. U. Pothast: Über einige Fragen der Selbstbeziehung, Frankf. 1971, v. a. S. 48ff.

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  8. M. Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Frankf. 1986, v. a. S. 60ff.

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  9. Vgl. Fichtes Polemik gegen dieses Modell in seinem »Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre« (1797). In: Fichte SW I, S. 525ff.

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  10. Vgl. K. Cramer: » Erlebnis«. Thesen zu Hegels Theorie des Selbstbewußtseins mit Rücksicht auf die Aporien eines Grundbegriffs nachhegelscher Philosophie. In: Stuttgarter Hegeltage 1970. Hrsg. H.-G. Gadamer. Bonn 1974, S. 537–603 Diese Abhandlung ist der Versuch einer Rehabilitierung Fichtes, dessen Selbstbewußtseinstheorie sie gerade darin verteidigt, daß sie diese vor ihrer nachidealistischen Kritik und Überbietung ins Recht zu setzen versucht. Cramer, der eine ganze Reihe von Autoren des Neukantianismus und der Phänomenologie über die ihnen selbst verborgen gebliebenen theoriegeschichtlichen Ursprünge ihrer Selbstbewußtseinstheorien belehrt, geht immer wieder auf Fichte zurück, von dem er zeigt, daß mit und aus ihm zu gewinnen wäre, was gegen ihn gewendet wird. Ihren Einwänden liegt zumeist diejenige Explikation des Ichbegriffs zugrunde, von dem Fichte gerade im Begriff ist, sich zu distanzieren und zu lösen. Schon dies unterstreicht die Notwendigkeit einer Reinterpretation der usurpierten Schriften. Cramer macht deutlich, daß, gerade weil man sich nicht hinreichend auf Fichte und die von ihm kritisierten Positionen einläßt, man das von ihm erreichte Niveau unterbietet und »hinter« ihn zurückfällt. Mit diesem Befund setzt sich Cramer fernerhin von all denen ab, die in Fichte nur den Theoretiker sehen, der zeitlebens an der Problematik einer nicht zirkulären Beschreibung des Ich arbeitete und an dieser Problematik letzten Endes auch scheiterte. Weit davon entfernt, dieses Scheitern als finalen Fluchtpunkt zu begreifen, legt Cramer Bruchstellen und Tendenzen in der Philosophie Fichtes frei, die in der Fortentwicklung über Hegel hinaus allererst zum Tragen kommen. Diese Bruchstellen sind Teil einer ständig sich potenzierenden Selbstkorrektur, die nicht nur zu immer neuen Fassungen der WI führt, sondern auch der weiteren philosophischen Entwicklung dadurch Vorschub leistet, daß sie eine Kritik provoziert, die nur noch »im Gegenzug gegen die cartesianische Tradition« (S. 600) begriffen werden kann, obgleich sie — wie Cramer ausdrücklich betont — aus einer inneren Radikalisierung ihres Ansatzes erwachsen ist. »Was man Hegels Vollendung des Cartesianismus nennen kann, besteht gerade in seinem Versuch, die Struktur,Ich’, die in der von Descartes ausgehenden Tradition entweder unanalysiert geblieben war oder nur regressiv bestimmt werden konnte, in einer dieser Tradition schlechthin fremden Weise zu problematisieren und dadurch zu Begriff zu bringen.« (ebd.). Die über die Hegelsche Logik vermittelte Kritik, die Selbstgewißheit eines zugrundeliegenden Ich nicht fraglos als »Ausgangspunkt einer Theorie des Wissens« (ebd.) vorauszusetzen, sondern diese Voraussetzung vermittels der und in den Formbestimmungen des Wissens zu thematisieren, ist der point de vue, über den Cramer beide Idealisten in Beziehung setzt und miteinander konfrontiert. Den entscheidenden Schritt, mit dem Hegel über die cartesianische Tradition, letztlich aber auch über Fichte hinausgeht, bestimmt er als die Auflösung dieser » Selbstgewißheit in ein Wissen von ihrer Bestimmtheit« (ebd., vgl. hierzu v. a. Theunissen (1978, S. 52) und Schubert (1985, S. 38)). Hegel bricht sehr viel entschiedener als Fichte mit der Vorentscheidung, eine erkenntnistheoretische Aufklärung von Wahrheit sei auf der Basis eines und in Orientierung an einem zugrundeliegenden Ich zu gewinnen. Gerade weil er das »Selbst« des Selbstbewußtseins nicht losgelöst, sondern im Zusammenhang seiner Reflexionsbestimmungen enthalten denkt, verschiebt sich für ihn die Frage nach diesem »Selbst« in Richtung auf eine logische Struktur, die keiner »Rückerinnerung an das subjektive Ich« bedarf. Zumindest schreibt Hegel ihr zu, ohne eine solche auszukommen. (Vgl. Chr. Hackenesch (1987), S. 173ff., 255ff.) Die Entschiedenheit, mit der Hegel diese Struktur von allem freizuhalten beansprucht, was an ein zugrundeliegendes, endliches Ich erinnert, kommt gerade dort zum Ausdruck, wo er die Schwierigkeit beleuchtet, mit der Fichte in der Tat zu kämpfen hatte, — der Schwierigkeit nämlich, klar zwischen dem zu trennen, was das Ich kennzeichnet, insofern es als zugrundeliegender phänomenologischer Befund und insofern es als eine Struktur angesprochen wird, welche als Prinzip unter dem Titel »absolutes Ich« alles Wissen begründet. »Die Bestimmung des reinen Wissens als Ich führt die fortdauernde Rückerinnerung an das subjektive Ich mit sich, dessen Schranken vergessen werden sollen, und erhält die Vorstellung gegenwärtig, als ob die Sätze und Verhältnisse, die sich in der weiteren Entwicklung vom Ich ergeben, im gewöhnlichen Bewußtsein, da es ja das sei, von dem sie behauptet werden, vorkommen und darin vorgefunden werden können. Diese Verwechslung bringt statt unmittelbarer Klarheit vielmehr nur eine um so grellere Verwirrung und gänzliche Desorientierung hervor; nach außen hat sie vollends die gröbsten Mißverständnisse veranlaßt.« (Hegel Werke Bd. 5, S. 77) Es wird in dieser Arbeit zu belegen sein: Fichte schreibt gegen diese » Verwechslung« an, indem er das Ich als Tathandlung von dem abhebt, was das Ich als eine »Tatsache« auszeichnet. Daß bereits in der GWL 1794 die durch die »Tathandlung« interpretierte Struktur des absoluten Ich einem am Modell des Bewußtseins gewonnenen Ich widerstreitet und über eine solche epistemische Grundlage hinaustreibt, gilt es jedoch im Auge zu behalten, zumal in dieser Trennung sich eine Transzendierung des Ichbegriffs auf eine Struktur hin anbahnt, die Fichte ganz bewußt ohne Rückbezug auf ein phänomenologisches Selbst profiliert. Cramer läßt offen, ob Hegel mit seiner Intention, Assoziationen an ein empirisches Ich gar nicht erst aufkommen zu lassen, sondern die Funktionszuschreibung von Selbstbeziehung ab ovo innerhalb des Strukturzusammenhangs der Reflexion zu reformulieren, in der Tat zu einer überlegenen Explikation des-sen gelangt, worum sich Fichte — unter Beibehaltung des Ichbegriffs — unermüdlich bemühte. Wodurch der Subjektivitätsbegriff zu dem Prinzip eines philosophischen Systems qualifiziert wird, diese Frage beantwortet aber bereits Fichte in einer Weise, die nicht an dem Modell eines zugrundeliegenden Ich gewonnen werden kann und sich auch nicht auf seiner Basis abdecken läßt. Es wird mithin auch Cramer gegenüber zu betonen sein, daß die Trennungslinien so fein säuberlich, wie er sie zwischen Fichte und Hegel mitunter zieht, nicht verlaufen.

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  11. Vgl. M. Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Frankf. 1986

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  12. Vgl. W. Schulz. Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Pfullingen 1975, S. 330

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  13. Ebd., S. 63

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  14. J. G. Fichte, Briefwechsel, hrsg. H. Schulz, 2 Bde., Leipzig 1925, 1. Bd. S. 478, 2.7.1795 (Nr. 246)

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  15. J. G. Fichte Briefwechsel. Hrsg. H. Schulz, 2 Bde., Leipzig 1925, 1. Bd. S. 478, 2.7.1795 (Nr. 246)

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Hühn, L. (1994). Fichtes Frühphilosophie. In: Fichte und Schelling oder: Über die Grenze Menschlichen Wissens. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03554-7_3

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