Zusammenfassung
Das Beispiel Schiller ist eigentlich eine Ausnahme, denn die Tranformation eines geistig, stofflich und formal hochanspruchsvollen Dichters in einen »lichte[n] Engel« (1828), »den Schirmherr[n] der deutschen Nation« (1859), »die herrlichste Personifikation des deutschen Gedankens« (1905)1 — die Reihe solcher magischen Erlösungsformeln ließe sich beliebig fortsetzen — und die Ausbeutung seines Werks zur Aufwertung nahezu jeder Weltanschauung und menschlichen Tätigkeit2 bildet den extremsten Fall von posthumer Dichterverehrung im ohnehin zur Künstlerhuldigung neigenden 19. Jahrhundert. Schillers Erhebung zum unantastbaren Klassiker enthällt irritierende Elemente eines Mißbrauchs der Literatur zu ideologischen Zwecken und hat mit seinem Werk, wie es heute gesehen wird, nur bedingt zu tun. Die Untersuchung von Schillers ungeheurer Wirkung im 19. Jahrhundert führt daher in doppelter Hinsicht an die Grenzen der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung. Zum einen kann nur ein Literaturbegriff, der sich im Sinne der Rezeptionsforschung vom Œuvre als dem Zentrum literarischen Forschens löst und »die Institution Literatur […] nicht als ›die Summe der vorgefundenen literarischen Texte und ihrer Autoren‹« versteht, sondern als den »Ort, wo durch literarische Praktiken Autoren, Werke und Leser überhaupt erst konstituiert werden«3, auch das Studium von sekundären und noch dazu häufig geistig keineswegs anspruchsvollen Texten, die oft zum heutigen Schillerverständnis nichts mehr beitragen können, für historisch erhellend halten.
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Anmerkungen
Die Zitate in der Reihenfolge: Wolfgang Menzel, Die deutsche Literatur, Stuttgart 1828, 2. Theil, S. 129f.;
Julius Mosen, Festgedicht zum 10. 11. 1859, in: Schiller-Album der allgemeinen National-Lotterie zum Besten der Schiller- und Tietge-Stiftungen, Dresden 1861, S. 169;
Albert Ludwig erwähnt in seiner materialreichen Darstellung: Schiller und die deutsche Nachwelt, Berlin 1909, S. 635, daß 1905 der Bund der Bodenreformer beanspruchte, Schiller habe »wie kein anderer Poet die Ziele der Bodenreform verherrlicht«.
Peter Uwe Hohendahl, Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830–1870, München 1985, S. 33.
Wilhelm Ernst Weber, Vorlesungen zur Aesthetik, vornehmlich in Bezug auf Göthe und Schiller, Hannover 1831, S. 1f.
Holger Dainat/Rainer Kolk, ›Geselliges Arbeitern. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie, in: Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987), Sonderheft, S. 38.
Hans Mayer, Schillers Nachruhm, in: Etudes Germaniques 14 (1959), S. 374.
Zit. nach Schiller — Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland, hg. v. Norbert Oellers, 1. Bd.: 1781–1859. Frankfurt 1970;
Adolf Dörrfuß, Die Schillerfeier von 1905, in: Marbacher Schillerbuch II, Stuttgart und Berlin 1907, S. 2.
Vgl. dazu Bernhard Endrulat, Das Schillerfest in Hamburg, Hamburg 1859. Die Literatur zu Schillers Zentenarfeier ist schier unüberschaubar, da nahezu jede Stadt ein Büchlein über die eigenen Feierbeiträge herausgab, die von wenigen Seiten bis zu großem Umfang reichten. Die aufwendigsten waren wohl das genannte Hamburger und das Frankfurter Werk (Gedenkbuch zu Friedrich von Schillers hundertjähriger Geburtsfeier …, Frankfurt 1860). Einen Überblick über die Feier insgesamt bietet: Die Schillerfeier der alten und der neuen Welt, Leipzig 1859 (= Lorck’s Zeithefte Nr. 11). Die Reden und Gedichte sammelt: Schiller-Denkmal, Vollständige Volksausgabe, 2 Bde., Berlin 1860. Über die Feiern in Amerika erschien eine eigene Publikation: Die Schillerfeier in den Vereinigten Staaten Nord America’s, hg. v. Moritz Meyer, New York [1860].
Ganz in diesem Sinn interpretiert einseitig Karl Obermann, Die deutsche Einheitsbewegung in den Jahren 1855–58, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3 (1955), S. 705–734.
Nach Hermann Uhde, Das Stadttheater in Hamburg 1827–1877, Stuttgart 1879, S. 491.
Hermann Baumgarten, Der deutsche Liberalismus hg. u. eingel. von Adolf M. Birke, Frankfurt u.a. 1976, S. 43 (= Ullstein Tb. 3034).
Bodo Lecke, Literatur der deutschen Klassik. Rezeption und Wirkung, Heidelberg 1981, S. 152.
Nach den verpönten ›Regulationen‹ von 1854 des Kultusbeamten Ferdinand Stiehl durfte die klassische Literatur an preußischen Lehrerseminaren nicht behandelt werden. Das letzte Beispiel der Angst vor der politischen Überzeugungskraft Schillers bildet Hitlers Verbot von 1941, »Wilhelm Tell«, »das Stück von diese[m] Schweizer Heckenschützen« aufzuführen oder in der Schule zu behandeln. Vgl. dazu Georg Ruppelt, Schiller im nationalsozialistischen Deutschland. Der Versuch einer Gleichschaltung, Stuttgart 1979, S. 40–45.
Theodor Fontane, Meine Kinderjahre, hg. v. Christian Grawe, Stuttgart 1986, S. 141 f. (= Reclams UB 8290).
Die Fontanes und Merckels. Ein Familienbriefwechsel 1850–1870, hg. von Gotthard Erler, 2 Bde., Berlin (Ost) 1987, Bd. 2, S. 251, 257.
Georg Gottfried Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, Leipzig 21844, 5. Theil, S. 481.
Vgl. dazu A. Ludwig, Schiller (Anm. 2), S. 46–52, und relativierend Norbert Oellers, Schiller — Geschichte seiner Wirkung bis zu Goethes Tod, 1805–1832, S. 295–309. Oellers macht darauf aufmerksam, daß in zeitgenössischen »Berichten« öfter die Lieder anderer Autoren als die bei den Soldaten beliebtesten genannt werden (»Arndt, Schenkendorf, M.v. Collin, Friedrich Schlegel und vor allem Theodor Körner«, S. 297f.), aber in den Erinnerungen der Beteiligten ist Schiller der einzige, der auf sie eine große emotionale Wirkung ausgeübt hat. Übrigens verwechselt Oellers Matthäus von Collin mit seinem sieben Jahre älteren Bruder Heinrich Joseph, dessen »Lieder österreichischer Wehrmänner«, 2 Bde., Wien 1809, zweifellos gemeint sind.
Adolf Rosenzweig, Schiller als Befreier im Ghetto, in: Schiller im Urteil des 20. Jahrhunderts. Stimmen über Schillers Wirkung auf die Gegenwart. Eingef. v. Eugen Wolf. Jena 1905, S. 25–27, hier S. 26.
Vgl. dazu [Friedrich Gruber], Friedrich Schiller. Skizze einer Biographie und ein Wort über seinen und seiner Schriften Charakter, Leipzig 1805;
ders., Schiller, der Jüngling, oder Scenen und Charakterzüge aus seinem früheren Leben, Stendal 1806. Zur Analyse: N. Oellers, Wirkung (Anm. 27), S. 83–102.
Eduard Boas, Schillers Jugendjahre, hg. v. Wendelin von Maltzahn, Hannover 1856.
Daß etwa ein Fälscher jahrelang »gewerbs- und gewohnheitsmäßig« angeblich Schillersche Handschriften auf den Markt werfen konnte, ist nur durch das Bedürfnis nach solchen »Reliquien« zu erklären. Vgl. dazu Max J. Wolff, Die Gerstenbergkschen Schiller-Fälschungen, in: Preußische Jahrbücher 221 (Juli-September 1930), S. 35–42. Theodor Fontane hat 1841 in seinem Gedicht »Shakespeares Strumpf« das Sammeln von Schillerreliquien karikiert, als der Leipziger Schillerverein eine Weste des Dichters erwarb.
Karl Grün, Friedrich Schiller als Mensch, Geschichtsschreiber, Denker und Dichter. Ein Kommentar zu Schillers sämtlichen Werken, Leipzig 1844, S. 17.
Karl Hoffmeister, Schillers Leben, Geistesentwicklung und Werke im Zusammenhang, Stuttgart, 1838–40, 1. Theil, S. V.
H.F.W. Hinrichs, Schillers Dichtungen nach ihren historischen Beziehungen und nach ihrem inneren Zusammenhange, Leipzig 1837, 1. Bd., S. XL.
Ebd., S. LIII. Das dritte der von Grün erwähnten Werke ist Gustav Schwab, Schillers Leben in drei Büchern, Stuttgart 1840.
A Vgl. dazu Des Fischweibs schmutzige Gefühle in Schillers prächt’ger Malerei. Schillerparodien seit 1790, hg. u. eingel. v. Christian Grawe, Stuttgart 1990.
Heinrich Laube, Das Burgtheater, in: Schriften über Theater, hg. v.d. Deutschen Akademie der Künste, Berlin (Ost) 1959, S. 198.
Thomas Carlyle, The Life of Friedrich Schiller, Comprehending an Examination of his Works. London 1893.
Goethe, Schriften zur Literatur, München 1962, 2. Teil, S. 281 (= dtv Gesamtausgabe, Bd. 32).
Vgl. dazu etwa: Literaturgeschichte zwischen Revolution und Reaktion. Aus den Anfängen der Germanistik 1830–1870, hg. v. Bernd Hüppauf, Frankfurt 1972;
Rainer Rosenberg, Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik, Berlin (Ost) 1981;
Über Literaturgeschichtsschreibung. Die historisierende Methode des 19. Jahrhunderts in Programm und Kritik, hg. v. Edgar Lohner, Darmstadt 1986.
Vgl. dazu Gabriele Stadler, Dichterverehrung und nationale Repräsentanz im literarischen Leben des 19. Jahrhunderts, Diss. München 1977.
Literarische Geheimberichte aus dem Vormärz. Mit Einl. u. Anm. hg. v. Karl Glossy, Wien 1912, S. 177. Der Spion berichtet dann im November mit Genugtuung, daß die Schillerfeier zu Streit innerhalb des Schillervereins geführt habe, vgl. S. 184.
Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 153 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 18). Vgl. dazu weiter: Richard Fier, Deutschlands Geistes-Helden. Ehrenmäler… in Wort und Bild, Berlin 1904;
Jörg Gamer, Goethe-Denkmäler — Schiller-Denkmäler, in: Denkmäler im 19. Jahrhundert. Deutung und Kritik, hg. v. Ernst Mittag u. Volker Plagemann, München 1972, S. 102–128.
Schiller’s Denkfest zu Stuttgart, am 11ten Mai 1826, Stuttgart u. Tübingen [1826]. Vgl. zu den Schillerfeiern allgemein, vor allem 1859 und aus literatursoziologischer Sicht: Rainer Noltenius, Dichterfeiern in Deutschland. Rezeptionsgeschichte am Beispiel der Schiller- und FreiligrathFeiern. München 1984. Und neuerdings ders., Schiller als Führer und Heiland. Das Schillerfest 1859 als nationaler Traum des 2. deutschen Kaiserreichs, in: Dieter Düding u.a., Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum 1. Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 237–259 (= rde 462).
Vgl. dazu den Dokumententeil in Andreas Streicher, Schiller-Biographie, hg. v. Herbert Kraft, Mannheim u.a. 1974, S. 309–428.
Alle Zitate aus: Denkmal (Anm. 15), in der Reihenfolge: Bd. 1, S. 228, S. 359, S. 490, S. 233f., S. 10, Bd. 2, S. 318. Vgl. zu diesem Komplex: Christian Grawe, Des Vaterlandes liebster Sohn. Aspekte von Friedrich Schillers Ruhm im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, 3. Kap.
Vgl. Ludwig Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit aus den Papieren eines Denkers (1830), in: Ders., Sämtliche Werke, neu hg. v. Wilhelm Bolin u. Friedrich Jodl, Stuttgart 1903–11, 1. Bd., S. 3–90;
David Friedrich Strauß, Vergängliches und Bleibendes im Christentum, in: Der Freihafen 1 (1838), H. 1, S. 1–48.
Vgl. schon 1840 im Anschluß an das Stuttgarter Schillerfest: Carl Ulimann und Gustav Schwab, Der Cultus des Genius, mit besonderer Beziehung auf Schiller und sein Verhältniß zum Christentum, Hamburg 1840;
weiter aus der Fülle der Literatur der Zeit: David Friedrich Strauß, Der alte und der neue Glaube, Leipzig 1872;
Sebastian Brunner, Paulus in Athen. Grundwahrheiten der Religion mit Rücksicht auf das klassische und moderne Heidenthum für Gebildete verständlich dargestellt, Wien 1867. Vgl. zum Kultus des Genius und Schiller neuerdings: C. Grawe, Aspekte (Anm. 72), 2. Kap.
Zit. nach Albert Leitzmann, Schillers Gedichtentwurf ›Deutsche Größe‹, in: Euphorion 12 (1905), S. 4.
Albert Leitzmann, Schillerliteratur der Jahre 1902–1904, in: Euphorion 12 (1905), S. 181.
Friedrich Nietzsches Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, München 1952, Bd. 1, S. 137.
Julius Burggraf, Schillerpredigten, Jena 1905, S. 12.
Vgl. dazu Der Berliner Antisemitismusstreit, hg. v. Walter Boehlich, Frankfurt 1965 ( = Sammlung insel 6).
Vgl. dazu insgesamt: Wolfgang Hagen, Die Schillerverehrung in der Sozialdemokratie. Zur ideologischen Formation proletarischer Kulturpolitik vor 1914, Stuttgart 1977 (= Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 9) und die einschlägigen Texte bei N. Oellers, Zeitgenosse (Anm. 11), S. 2.139–164. Und neuerdings: Schiller-Debatte 1905. Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie, hg. u. eingel. v. Gisela Jonas, Berlin (Ost) 1988.
Vgl. dazu etwa Gustav Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte, in: Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte 3 (1890), S. 128–173;
Ludwig Bellermann, Die Anordnung von Schillers Gedichten, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 15 (1912), S. 367–378.
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Grawe, C. (1994). Das Beispiel Schiller Zur Konstituierung eines Klassikers in der Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts. In: Fohrmann, J., Voßkamp, W. (eds) Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03523-3_16
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Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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