Zusammenfassung
Der Versuch, literarische Texte unter psychoanalytischen Gesichtspunkten zu lesen, sieht sich im Falle von Michaux einer eigentümlichen Situation gegenüber. Auch wenn dieser hermeneutische Zugang angesichts eines Werks, das sich immer wieder am Rand dessen ansiedelt, was als psychische Normalität gilt, um an diesem Rand Beschreibungen pathologischer Phänomene vorzunehmen, als sinnvoll oder sogar notwendig erscheint, so drängt sich zugleich der Eindruck auf, er könne in diesem konkreten Fall nicht weit führen. Denn wenn das Wesen einer psychoanalytischen Lektüre in der Anstrengung besteht, das Unbewußte als verborgene Tiefenstruktur unter der Oberfläche der Texte zu entdecken und zu rekonstruieren, dann scheint diese Anstrengung sich hier insofern zu erübrigen, als Michaux bereits selbst ständig versucht hat, den psychischen Innen-Raum mit seinen Mechanismen zu erkunden und Phänomene des Unbewußten an die Oberfläche der Texte zu holen. Die außerordentliche Sensibilität für Traumata ist bei ihm an die nicht minder außerordentliche Fähigkeit gekoppelt, diese im psychischen »Normalfall« verdrängten und gesellschaftlich tabuisierten Phänomene ins Zentrum des Bewußtseins zu heben. Konnte Freud noch im Blick auf Goethe feststellen, dieser sei in seinem Werk »trotz der Fülle autobiographischer Aufzeichnungen ein sorgsamer Verhüller« [1] gewesen, so muß Michaux, nach einem Wort von Heißenbüttel, einer modernen »Literatur der Selbstentblößer« zugerechnet werden [2]. Dem Leser, der nicht nur nachvollziehen, sondern auch entziffern möchte, scheint darum die Rolle dessen zuzufallen, der mit dem, was er zu entziffern meint, immer nur wiederholen kann, was der Autor längst vor ihm zu Sprache gebracht hat.
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Geisler, E. (1993). An der Schwelle zur symbolischen Ordnung. In: Henri Michaux. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03436-6_2
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03436-6_2
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-00863-3
Online ISBN: 978-3-476-03436-6
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