Sehnsucht nach der Unschuld

Zusammenfassung

In diesem Gedicht formuliert Konstantin Kavafis, einer der bedeutendsten griechischen Dichter unseres Jahrhunderts, die wesentlichen Momente der homosexuellen Sehnsucht nach der Unschuld des Jünglings auf der Schwelle zwischen der Knabenzeit und dem Erwachen männlicher Gefühle, männlicher Sexualität. Während John Henry Mackay sich bemüht, die “namenlose Liebe” zum Knaben oder Jüngling als eine “reine”, unsexuelle darzustellen, ist bei Kavafis unzweideutig zumindest von Erotik, Sinnlichkeit, wenn nicht von handfester Sexualität die Rede. Zwar bleibt auch Kavafis im Bereich der Andeutung, verzichtet auf die Darstellung konkret sexueller Handlungen, aber die Küsse, die in diesem Gedicht getauscht werden, sind nicht mehr von der Art des letzten und einzigen Kusses, den Mackays Fenny Skaller mit seinem knabenhaften Geliebten tauscht. Der, der im Gedicht von Kavafis die Lippen beliebiger “neuhergeholter Lieblinge” küßt, weiß, daß die Lippen des verlorenen Geliebten ihm gehören.

In Verzweiflung

Ihn hat er ganz verloren, und nunmehr spürt er nach

Auf Lippen eines jeden neuhergeholten Lieblings

Den Ihm gehörigen Lippen, in Einigung mit jedem

Neuhergeholten Liebling sucht er, sich selbst zu täuschen,

Es sei derselbe Junge, er neige sich zu jenem.

Ihn hat er ganz verloren, als gäbe es ihn nicht mehr.

Denn er — sprach jener — wollte, er wollte seine Rettung

Aus der gebrandmarkten der krankheitsnahen Lust,

Aus der gebrandmarkten, schandegeborenen Lust.

Es war noch, wie er sagte, ein Augenblick der Rettung.

Ihn hat er ganz verloren, als gäbe es ihn nicht mehr.

Aus der Einbildung Macht und aus verworrnen Reizen

Auf anderen Jünglingslippen sucht jene Lippen er,

Müht er sich, wiederum zu fühlen seinen Eros.¹