Literarische Interpretation Angewandte Theorie oder soziale Praxis?

Zusammenfassung

Nach einer Reihe von Jahrzehnten weitgehend unangefochtener Herrschaft der werkbezogenen Interpretation, entweder als Hauptaufgabe der universitären Literaturwissenschaft oder doch zumindest als unverzichtbarer Bestandteil mehr historisch, soziologisch oder psychologisch verfahrender Ansätze, ist die Frage heute nicht mehr von vornherein abzuweisen, ob literarische Interpretation in der Tat so unverzichtbar ist, wie es Generationen von Literaturwissenschaftlern schien und zum nicht unerheblichen Teil noch immer scheint. Als fester Bestandteil der verschiedenen Versionen bürgerlicher Literaturwissenschaft wie sie spätestens seit dem New Criticism in den 30er und 40er Jahren in Amerika entwickelt worden sind, ist die Interpretation von Einzelwerken heute ebenso in Frage gestellt wie die herkömmliche Literaturwissenschaft insgesamt. Bevor ich jedoch zur Verzichtbarkeit oder Unverzichtbarkeit der Interpretation Stellung nehme und sie zu meinem eigentlichen Thema in Beziehung setze, will ich zunächst etwas genauer explizieren, was ich mit ›literarischer Interpretation‹ meine. Und in einem zweiten Schritt möchte ich sodann klären, in welcher Weise die Existenzberechtigung der literarischen Interpretation von neueren Richtungen der Literaturwissenschaft bestritten wird.