Zusammenfassung
Was gegenwärtig als Existenzphilosophie die Problematik der Philosophie überhaupt bestimmt, hat seine geschichtliche Herkunft aus dem Bruch mit jener Epoche der Philosophie, welche zuletzt gekennzeichnet ist durch Hegels Vollendung des deutschen Idealismus. In Hegels bewußter Voll-endung einer mehr als zweitausendjährigen Tradition bekundet sich ein Ende und damit die Notwendigkeit eines neuen Anfangs der Philosophie. Die allgemeinsten Schlagworte, in denen sich diese Anwendung von Hegel polemisch und positiv zum Ausdruck bringt, sind: »Wirklichkeit« und »Existenz«. Diese polemische Betonung der wirklichen Existenzverhältnisse richtet sich gegen die von Hegel mit der Wirklichkeit ineins gesetzte »Vernunft« und damit überhaupt gegen die Philosophie als reine Theorie, gegen das bloß vernunftgemäße »Betrachten« und »Begreifen« der Wirklichkeit. In dieser Gegenstellung zu Hegel stimmen alle führenden Linkshegelianer der vierziger Jahre überein, mögen sie im übrigen so wesensverschieden sein wie Feuerbach, Marx, Stirner und Kierkegaard. Feuerbachs Gegenbegriff zu Hegels »abstraktem Denken« ist die »sinnliche Anschauung« und »Empfindung«, Marxens Gegenbegriff die »sinnliche Tätigkeit« oder »Praxis«, Stirners Gegenbegriff das egoistische »Interesse« und der von Kierkegaard die entschiedene »Leidenschaft« der Innerlichkeit der Existenz.
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Notizen
Marx-Engels-Gesamt-Ausgabe I, 2, S. 173ff.
Siehe vor allem Philos. Brocken, W. 6, S. 209ff. und 7, S. 1ff.
Sein und Zeit, § 9, S. 42 und § 29. Dennoch ist das fundamental-ontologische Problem von Sein und Zeit nicht identisch mit Kierkegaards Existenzproblematik, sondern hat diese allererst zu einer ontologischen Auswirkung gebracht und damit auch die Verbindung mit der Geschichte der abendländischen Ontologie wieder hergestellt.
Vgl. Kierkegaards Tagebücher, übersetzt von Ulrich, Berlin 1930, S. 145.
W. 10, S. 93.
Hegel, W. XIV, S. 93ff.; VII, S. 175ff.;X, S. 81ff.
Siehe Tagebücher, übersetzt von Th. Haecker, I. S. 58f. und Das Eine was not tut, Zeitwende 1927, H. 1.
Schon die Dreiteilung von Jaspers’ Philosophie in Weltorientierung (= Erforschung der objektiven Wirklichkeit), Existenzerhellung (= Appell an das Selbstsein) und Metaphysik (= Suchen der Transzendenz) unterscheidet sie grundsätzlich von Heideggers Existenzialontologie. Die einheitliche Deduktion von dieser ist ebensosehr in der Sache begründet wie die gegliederte Kombination von jener. Jaspers’ Aufteilung des Seins in Dasein, Existenz und Transzendenz begründet sich bei ihm aus der »Zerrissenheit« des Seins selber für den es befragenden Menschen, zerrissen nämlich in eine für sich bestehende, vergängliche Welt und eine am sich seiende unendliche Transzendenz, die beide Problem sind für eine auf sich gestellte Existenz. Umgekehrt gelingt es Heidegger, und zwar durch das Absehen von einem transzendenten Ansichsein, auch das Ich- und Objektsein einheitlich zu begreifen als das »In-der-Welt-sein« des existierenden Daseins und das universale Seinsproblem dementsprechend bruchlos aus einem Ansatz fundamental-ontologisch zu entwickeln.
Was ist Metaphysik?, Bonn 1929.
Siehe W. 6, S. 272ff.
Heidegger, a. a. O., S. 266.
Was ist Metaphysik?, S. 20.
Siehe Heidegger, Vom Wesen des Grundes, Halle 1929.
Jaspers, Philosophie, Bd. I: Weltorientierung; Bd. II: Existenzerhellung; Bd. III: Metaphysik. Berlin 1932.
Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919, S. 12; Die geistige Situation der Zeit, Sammlung Göschen, 1931, S. 11, 13, 145, 163; Philosophie I, Vorwort und S. 15 Anm.
Siehe Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929.
Die Vorausetzung eines positiv zwingenden Wissens bestimmt methodisch Jaspers’ Philosophie überhaupt. Ihr Begriff vom Wissen und von der Wahrheit entfaltet sich nicht aus eigenem Ursprung, sondern in einer Theorie von der »Relativität des Zwingenden«, durch negative Abhebung von dem vorausgesetzten Wissen der positiven Wissenschaften, welches sie existenziell relativiert. Dagegen hat schon Dilthey den Weg beschritten zur Aufhellung der existenziellen und metaphysischen Voraussetzungen gerade auch jenes positiv zwingenwollenden Wissens moderner Wissenschaft.
Vgl. Jaspers, Strindberg und van Gogh, Berlin 1922.
Vgl. vom Verf.: Max Weber und Karl Marx, Arch. f. Soz. wiss. u. Woz. pol., Bd. 67, H. 1, S. 91ff. (Sämtliche Schriften 5, S. 324ff.).
Was Jaspers gelegentlich (I, 11; S. 133) kritisch zur Idee der »Natürlichkeit« äußert, zeigt, daß er sich darunter nur eine ungeschichtliche Konstruktion und Nivellierung vorstellen kann, aber keine sich stets wiederholende und je geschichtliche Möglichkeit und Notwendigkeit gerade der künstlich gewordenen »Existenz«. Vgl. dazu etwa Goethes Gespräch mit Eckermann vom 11. und 12. März 1828.
So verständlich Jaspers’ Kritik der Soziologie ist, sofern diese den Menschen als solchen begreifen will, so ist doch aus dem ursprünglichen Marxismus mehr zu lernen, als es nach Jaspers’ Darstellung zu sein scheint. Wie wenig dessen Ideen mit Rücksicht auf Jaspers’ Situationsanalyse überholt sind, zeigt F. Engels’ Besprechung von Carlyles Past and Present, Marx-Engels-Gesamt-Ausgabe I, 2, S. 423ff.
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Löwith, K. (1990). Existenzphilosophie. In: Lutz, B. (eds) Der Mensch inmitten der Geschichte. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03324-6_1
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