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Reale und Metaphorische Totengräber

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Kulturbegründer und Weltzerstörer
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Zusammenfassung

Im Gleichnis vom guten Gärtner und vom umsichtigen Hirten sprechen sich die Verbesserungshoffnungen des europäischen Kulturbewußtseins aus. Vielfältige Meliorationsbilder und Domestikationschiffren veranschaulichen diese Sehnuchtsmotivik, die in arkadischen Visionen und in idyllischen Lebensentwürfen von Zeit zu Zeit völlig bestimmend wurde. Dabei traten Mißhelligkeiten, ungute Entwicklungen und nachteilige Eigenschaften semantisch in den Hintergrund, denn sie waren dazu angetan, Sehnsuchtsbilder und Fortschrittshoffnungen zu stören. Doch war der Mensch überhaupt in der Lage, ein solches Ideal geistig und seelisch zu erfüllen, es gar in die Tat umzusetzen? An Bedenken gegen das Phantasma eines allzu idyllischen Gärtner-Daseins mangelte es nicht. Immanuel Kant faßte sie zusammen, als er an die Notwendigkeit erinnerte, auch die weniger guten, ja die schlechten Gärtner und Hirten nicht zu vergessen oder sie gar zu verdrängen, sondern ihnen bedeutungsgeschichtlich in Theorie und Praxis der Kultur gerecht zu werden. Nicht nur Einmütigkeit und gemeinsames Streben gelten dem Philosophen als kulturförderlich, sondern ebenso des Menschen Selbstsucht und Vereinzelungsdrang, sein Bedürfnis, »getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann.« [1] Ohne das Ausleben dieser Anlagen, bei ihrer völligen Unterdrückung, »würden in einem arkadischen Schäferleben, bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe, alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zweckes, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen.«

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Anmerkungen

  1. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, Band XI, S. 38 (Vierter Satz). Zum soziomorphen Charakter menschlicher Destruktivität vgl. in Auseinandersetzung mit Kants Thesen Helmuth Plessner, Ungesellige Geselligkeit. Anmerkungen zu einem Kantischen Begriff (1966), in: Die Frage nach der Conditio humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie, Frankfurt am Main 1976, S. 100–110.

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  2. Vgl. Friedrich Sieburg, Robespierre, Frankfurt am Main 1935, S. 282.

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  3. Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Todtengräberlied (1775), in: Sämtliche Werke, Erster Band, Weimar 1914, S. 195.

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  4. Vgl. Leo Lania (Pseudonym für Lazar Herrmann): Die Totengräber Deutschlands. Das Urteil im Hitlerprozeß, Berlin 1924; Adolf Hitler, Mein Kampf (1. Auflage 1925 u. 1927), Ausgabe in einem Band, München 1937, S.259.

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  5. Hans Erich Nossack, Der Untergang (geschrieben 1943 nach der Zerstörung Hamburgs), Frankfurt am Main 1976, S. 52.

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  6. So Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt am Main-Berlin-Wien 1973 u.ö., S. 1023.

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  7. Vgl. Ernest Borneman, Sex im Volksmund. Der obszöne Wortschatz der Deutschen. Band 2: Wörterbuch nach Sachgruppen. Reinbek bei Hamburg 1974, Abschnitt 14.34.

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  8. Ernst Jünger, Aladins Problem, Stuttgart 1983, hier zitiert S. 104.

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  9. Vgl. Samuel Beckett, Le dépeupleur, Paris 1970, deutsch unter dem Titel: Der Verwaiser, Frankfurt am Main 1972.

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  10. Eine weitere zeitgenössische Verwendung des Totengräber-Motivs findet sich bei Angelika Mechtel, Die feinen Totengräber. Erzählungen, München 1968, S. 7–15. Vorher schon erscheint der literarische Topos bei Ludwig Franz von Bilderbeck, Der Todtengräber (in vier Teilen), Leipzig 1802. In der Tradition Shakespeare’s und Höltys steht das Dramolett von Klabund (Alfred Henschke), Der Totengräber, Kiel 1919.

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Thurn, H.P. (1990). Reale und Metaphorische Totengräber. In: Kulturbegründer und Weltzerstörer. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03303-1_3

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03303-1_3

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-00687-5

  • Online ISBN: 978-3-476-03303-1

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