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Von der Entzauberung zur Scheinverwandlung

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Kulturbegründer und Weltzerstörer
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Zusammenfassung

Der verschlungene und wechselvolle Weg, den die Destruktionssemantik in der Abfolge der Epochen durchläuft, führt sie schließlich in eine Entzauberung hinein, die am Ende des 20. Jahrhunderts unwiderruflich zu werden scheint. Unzähligen Generationen hatten Mythen und Symbole, hatten Riten und Metaphern die geistige und seelische Auseinandersetzung mit Zerstörungsereignissen mannigfacher Art erleichtert, hatten ihnen das Unbekannte, Bedrohliche veranschaulicht, sie in eigenem Wollen und Tun geleitet, hatten ihre Ängste ebenso wie ihre Sehnsüchte erkennbar werden lassen. Aus diesen Leistungen leiteten sich der mentale Nutzen und die praktische Brauchbarkeit destruktionsspezifischer Chiffren und Codes her, ihr epochenbedingter Wandel nicht minder als ihre zeitüberdauernde Stetigkeit. Doch an der Schwelle zum 21. Jahrhundert hat die überlieferte Destruktionssemantik solche Funktionen weitgehend verloren, hat an theoretischer und praktischer Begleitfähigkeit eingebüßt, schwindet ihre Relevanz für Bewußtwerdung, Tun und Erdulden des Zerstörertums. Kaum noch können ihre Vorstellungsbilder und Sprachregelungen zur Legitimation oder Exkulpation irgendwelcher Vernichtung herhalten, im zeitgenössischen Demolierungsgesche-hen vermögen sie nurmehr wenig einsichtig oder gar akzeptabel werden zu lassen. Entsprechend gering ist heutzutage die produktive ebenso wie die rezeptive Attraktivität der traditionalen Sinnangebote: ihr Pathos greift ins Leere. Welcher Soldat dürfte oder wollte sich heute noch glaubwürdig auf archaisches Kriegertum berufen, welcher Politiker wäre angemessen als Hirte oder Totengräber zu kennzeichnen, welchem Ruin ließe sich deutend mit bloßen Naturparaphrasen oder auch mit der kulturellen Symbolik von Sichel, Pfeil und Hammer, von Krug und stürzenden Säulen beikommen?

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Anmerkungen

  1. Max Weber, Wissenschaft als Beruf (Vortrag 1919), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Auflage Tübingen 1973, S. 582–613, hier zitiert S.593 f.

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  3. Beispiele für solche (stets künstlichen!) Zuordnungen bietet etwa Mircea Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Von den Quellen der Humanität, Frankfurt am Main 1976. Vgl. als Detailstudie auch

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  7. Mit dem Wandel dieser psychagogischen Leistungen der Kultur setzt sich auseinander Alexander Mitscherlich, Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität. Vier Versuche, Frankfurt am Main 1969.

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  8. Zum Konzept der Widersprucksbindung vgl. Gregory Bateson, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt am Main 1981, insbes. S. 276 ff. (»Der double bind«) und S. 353 ff. (»Double bind, 1969«). Einen Versuch, Bateson’s analytischen Entwurf der »Beziehungsfalle« auf soziale Groß-Prozesse anzuwenden, unternahm

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  9. Norbert Elias, Die Fischer im Mahlstrom, in: Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I, Frankfurt am Main 1983, S. 73—183. In der Argumentation des vorliegenden Textes steht jedoch die Betrachtung kultureller Realitäten im Vordergrund.

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  10. Vgl. das wie für jede so auch für die hier erfolgende Untersuchung zerstörerischer Prozesse grundlegende Werk von Erich Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart 1974. Fromm verzichtete jedoch auf eine explizite Durchleuchtung kulturell-semantischer Gegebenheiten.

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  14. Vgl. aus der Fülle diesbezüglicher Forschungen und Thesen die immer noch gültigen Ausführungen von Kurt Lüscher, Gewalt im Fernsehen — Gewalt des Fernsehens, in: Friedhelm Neidhardt u.a., Aggressivität und Gewalt in unserer Gesellschaft, München 1973, S. 83–104.

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  15. Soweit ersichtlich, spricht erstmals Jacob Burckhardt von der Entstehung und der hier geschilderten Funktion kultureller, wirtschaftlicher und politischer »Pseudoorganismen«; wie auch von deren Zusammenhang mit »Kulturzerstörung« und gesellschaftlichen Krisenlagen. Vgl. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (verfaßt ab 1868). Erläuterte Ausgabe hrsg. von Rudolf Marx, Stuttgart 1978, beispielsweise S. 95, S. 188 f. In einem anderen, eher naturparaphrastischen Sinn, der mit den hier im Text erörterten binnenstrukturellen Wandlungen nicht identisch ist, diskutiert

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  16. Oswald Spengler »historische Pseudomorphosen«, in: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918–1922), München 1979, S. 784 ff.

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  19. Egon Larsen, Hochstapler. Die Elite der Gaunerwelt, Hamburg 1984. Auf literaturhistorischer und kunsttheoretischer Ebene geht dem Zusammenhang von Wahrhaftigkeit und Authentizität nach:

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  20. Lionel Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, München 1980.

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  21. Zur Gestalt des Tricksters vgl. Mircea Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung, a. a. O., S. 207 ff. sowie die dortigen Literaturangaben. Zur Mythologie des Hermes, den man als archaische Leitfigur aller Trickster, als semantischen Ahnvater der hier geschilderten Haltungen und Vorgänge bezeichnen könnte, vgl. Karl Kerényi, Die Mythologie der Griechen. Die Götter- und Menschheitsgeschichten, Zürich 1951, S. 159 ff.

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  22. Einsichten in diese Zusammenhänge bietet Wolfgang Fritz Hang, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt am Main 1971. Zum Begriff der »Pseudokultur« vgl. auch

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  23. Lucien Goldmann, Kultur in der Mediengesellschaft, Frankfurt am Main 1973, insbes. S. 19 f.

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  24. Zur Kultur als »fuzzy system« vgl. Walter L. Bühl, Kultur als System, in: Friedhelm Neidhardt, M. Rainer Lepsius, Johannes Weiß (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft, Opladen 1986, S. 118–144, insbes. S. 125 ff. (»Kultur als variabel gekoppeltes System«) sowie die dortigen Literaturhinweise.

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  25. Walter Benjamin, Der destruktive Charakter, in: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main 1961, S. 310–312.

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  26. Zu dieser Haltung vgl. die Ausführungen in Kap. 7, Abschnitt 1 (»Die Grundformel der Legitimation«), S. 85 ff. Natürlich ist, zumal in der politischen Kultur, dies alles keineswegs neu, hat sich jedoch den Epochenbedingungen eskalierender Destrugenität entsprechend verschärft, ist dadurch gefährlicher, zugleich aber durch die Massenmedien evidenter gemacht und infolgedessen (hoffentlich) besser kontrollierbar. Schonjonathan Swift hat die hier beschriebenen Trugelemente der politischen Kultur kritisch herausgearbeitet in seinem Essay: Über die Kunst der politischen Lüge (1710), in: Satiren, Frankfurt am Main 1965, S. 135–141. Mit den modernen Techniken und Folgen der täuschenden Verdrehung sowie Fingierung politischer Wirklichkeiten befaßt sich dezidiert Hannah Arendt, Wahrheit und Politik, in: Philosophische Perspektiven. Ein Jahrbuch, hrsg. von Rudolph Berlinger und Eugen Fink. Band 1, Frankfurt am Main 1969, S.9–51, insbes. S. 33 ff.

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  27. Wie schon Ludwig Wittgenstein betont hat: Tractatus logico-philosophicus. Logischphilosophische Abhandlung (1921), 4.002. Frankfurt am Main 1963, S. 32. Zur pseudologischen Problematik der Sprache vgl. insbes.

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  28. Harald Weinrich, Linguistik der Lüge. Kann Sprache die Gedanken verbergen? Heidelberg 1966. Eine Sammlung zum entsprechenden Mode-Vokabular heutiger Alltagssprachen bietet: Dummdeutsch. Ein satirisch-polemisches Wörterbuch, hrsg. von Eckhard Henscheid, Carl Lierow, Elsemarie Maletzke, Frankfurt am Main 1985.

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Thurn, H.P. (1990). Von der Entzauberung zur Scheinverwandlung. In: Kulturbegründer und Weltzerstörer. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03303-1_12

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