Zusammenfassung
Der Prozeß ist der bekannteste und zugleich umstrittenste Roman Kafkas. Beim literarisch interessierten Publikum gehört er zu den am besten bekannten Romanen überhaupt; das Ereignis, mit dem er beginnt — die nicht näher erklärte Verhaftung Josef K.s — ist für viele Leser zum Inbegriff des »Kafkaesken« geworden. Bei den Literaturwissenschaftlern jedoch, die sich mit ihm beschäftigt haben, gibt es bisher kein Anzeichen dafür, daß man zu einer einheitlichen Auffassung über den Roman kommen könnte. Stattdessen zeigt sich immer wieder die Tendenz, auf die Vielfalt der Interpretationen mit der Meinung zu reagieren — wie es erst vor kurzer Zeit Theo Elm getan hat —, Der Prozeß sei eine »Leerform«, eine Form ohne Inhalt oder ein Rätsel ohne Lösung. Es sei darauf angelegt, beim Leser eine auf das Verstehen seines Sinnes gerichtete Erwartungshaltung zu erzeugen, um ihn dann in eben dieser Erwartung zu enttäuschen.[1] Wenn ich auch den verlockenden Reiz von Anschauungen dieser Art durchaus nachempfinden kann — sie schwingen sich ja hoch über das Kampfgetümmel kritischer Auseinandersetzungen empor, so halte ich sie doch für falsch. Ich werde eine entgegengesetzte Position einnehmen. Dabei stütze ich mich in besonderem Maße auf eine ältere Interpretation des Romans Der Prozeß, nämlich auf Ingeborg Henels richtungweisenden Aufsatz aus dem Jahre 1963.[2]
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Anmerkungen
Theo Elm, »Der Prozeß«, in: Binder (Hrsg.) Kafka-Handbuch, Bd. 2, 424–425. Diese Auffassung geht zurück auf Walser, Beschreibung einer Form; am überzeugendsten hat sie vertreten Horst Steinmetz, Suspensive Interpretation am Beispiel Franz Kafkas (Göttingen 1977).
Als kritische Stellungnahme dazu vgl. Robert Welsh Jordan, »Das Gesetz, die Anklage und K.s Prozeß: Franz Kafka und Franz Brentano«, JDSG 24 (1980), 333–334.
Ingeborg Henel, »Die Türhüterlegende und ihre Bedeutung für Kafkas Prozeß«, DVjs 37 (1963), 50–70.
Brod, »Nachwort zur zweiten Ausgabe«, Franz Kafka, Der Prozeß (Frankfurt 1950), 324–325;
Eric Marson, Kafka’s Trial: The Case against Josef K. (St. Lucia, Queensland 1975), 8. Hier sind die wichtigsten Abweichungen wiedergegeben und diskutiert; das Buch ist eine wertvolle Studie, die weniger Beachtung gefunden hat, als sie verdient.
Bibliographische Hinweise zu dieser Diskussion bei Peter U. Beicken, Franz Kafka: Eine kritische Einführung in die Forschung (Frankfurt 1974), 371–373. Die Thesen Uyttersprots sind im einzelnen diskutiert worden von Binder, Kommentar zu den Romanen, 160–174.
Vgl. Peter Cersowsky, Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts (München 1983) als (manchmal zu weitgehende) Zusammenstellung der Ähnlichkeiten zwischen den Werken Kafkas, Kubins und Meyrinks.
W.J. Dodd, »Varieties of Influence: On Kafka’s Indebtness to Dostoevski«, Journal of European Studies, 14 (1984), 262–263. Vgl. Wagenbach, Biographie, 254; Brod, Über Franz Kafka, 46. Die gründlichste Untersuchung, die über Kafkas Abhängigkeit von Dostojevski vorliegt, stammt von
Sissel Laegreid, Ambivalenz als Gestaltungsprinzip: Eine Untersuchung der Querverbindungen zwischen Kafkas »Prozeß« und Dostojewskis »Schuld und Sühne« (Bergen 1980).
Konstantin Mochulsky, Dostoevsky: His Life and Work, tr. Michael A. Minihan (Princeton 1967), 300, 290.
Fjodor M. Dostojewskij, Schuld und Sühne, übertragen v. Richard Hoffmann, München 81985 (dtv klassik 2024), 124.
Vgl. Donald Fanger, Dostoevsky and Romantic Realism (Chicago 1965), 42.
Joseph Conrad, The Secret Agent (London 1907), 87.
Peter Demetz, René Rilkes Prager Jahre (Düsseldorf 1953), 107–108. Vgl. Brod, Über Franz Kafka, 170.
Henel, »Die Deutbarkeit von Kafkas Werken«, ZfdP 86 (1967), 250–266.
Vgl. Winfried Kudszus, »Erzählperspektive und Erzählhaltung in Kafkas Prozeß«, DVjs 44 (1970), 306–317.
Eine lesenswerte und detaillierte Darstellung dieser Vorgänge und ihrer Bedeutung für Der Prozeß findet sich bei Elias Canetti, Der andere Prozeß (München 1969).
Zitiert nach Werner Mittenzwei, »Brecht und Kafka«, in: Eduard Goldstücker, František Kautmann und Paul Reimann (Hrsg.), Franz Kafka aus Prager Sicht (Prag 1965), 123.
Georg Lukács, The Meaning of Contemporary Realism, tr. John and Necke Mander (London 1963), 57.
Vgl. Martin Jay, The Dialectical Imagination: A History of the Frankfurt School and the Institute for Social Research 1923–1950 (London 1973).
Die falsche Deutung stammt von Keith Leopold, »Breaks in Perspective in Franz Kafka’s Der Prozeß«, GQ 36 (1963), 36.
Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Drittes Stück, § 1 (Werke, hrsg. v. Karl Schlechta, 3 Bde., München 1956) Bd. 1, 287.
Adolfo Sanchez Vazquez, Art and Society: Essays in Marxist Aesthetics, tr. Marc Riofrancos (London 1973), 147.
Thomas Mann, Gesammelte Werke (12 Bde., Frankfurt 1960), Bd. 8, 515.
Leo Tolstoi, Der Tod des Iwan Iljitsch, aus d. Russ. übertragen v. Johannes von Guenther (Stuttgart 1983), 87. Kafka hat diese Erzählung gelesen, aber vielleicht nicht vor Dezember 1921 (T 551).
Franz Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, hrsg. v. Oskar Kraus (Leipzig 1921), 8. Vgl. Jordan, 340–342.
Salomon Maimon, Lebensgeschichte, hrsg. v. Jakob Fromer (München 1911), 358–359. Auf diesen Abschnitt und seine mögliche Bedeutung für den Prozeß hat zuerst Malcolm Pasley hingewiesen, »Two Literary Sources of Kafka’s Der Prozeß«, FMLS 3 (1967), 142–147.
Kafkas Schilderung der Atmosphäre geht auf Schuld und Sühne zurück. Dort erleidet Raskolnikow einen Schwindelanfall im Polizeibüro (vgl. Binder, Kommentar zu den Romanen, 216). Überraschender ist ihre Verbindung mit Casanovas Schilderung seiner Haft in den Bleikammern Venedigs; vgl. dazu Brod, Über Franz Kafka, 92, und Michael Müller, »Kafka und Casanova«, Freibeuter, 16, (1983), 67–76.
Walter Benjamin und Gershom Scholem, Briefwechsel 1933–1940, hrsg. v. Gershom Scholem (Frankfurt 1980), 157–158.
André Németh, Kafka ou le mystère juif, tr. Victor Hintz (Paris 1947), 112–113. Vgl. Marson, 193.
F.M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff , übers. v. E.K. Rahsin (München 1914), 523. In dieser Übersetzung hat Kafka den Roman gelesen: vgl. Wagenbach, Biographie, 254.
Wilhelm Jannasch, Erdmuthe Dorothea Gräfin von Zinzendorf, geborene Gräfin Reuß zu Plauen: Ihr Leben als Beitrag zur Geschichte des Pietismus und der Brüdergemeinde dargestellt (Herrnhut 1915). Vgl. F 677.
Vgl. die Übersicht von Ernst Weiß, wieder abgedruckt bei Jürgen Born (Hrsg.), Franz Kafka: Kritik und Rezeption 1924–1938 (Frankfurt 1983), 96; Benjamin und Scholem, Briefwechsel, 169.
Bertolt Brecht, »Vergnügungstheater oder Lehrtheater?«, Gesammelte Werke (20 Bde., Frankfurt 1967), Bd. 15, 265.
Vgl. R.St. Leon, »Religious Motives in Kafka’s Der Prozeß«, Journal of the Australasian Universities Modern Language Association, 19 (May 1963), 21–38. Vgl. The Talmud: Selections, tr. H. Polano (London, n.d.), 347. Wie Max Brod, Über Franz Kafka, 233, erzählt, besaß Kafka eine Talmudanthologie; wir wissen jedoch nicht, wann er sie erworben hat. Sein Wissen über die Lehre des Talmud zur Zeit der Arbeit an Der Prozeß darf sicherlich nicht überschätzt werden. Die Talmud-Zitate in seinem Tagebuch (T 173; 177–78) stammen aus Gordins Die Schchite.
Giuliano Baioni, Kafka: romanzo e parabola (Milano 1962), 164, identifiziert sie als eine Versammlung von Chassidim.
Vgl. Jakob Fromer, Der Organismus des Judentums (Charlottenburg 1909), 64. Kafka hat dieses Buch im Januar 1912 gelesen (T 242). Der Mann vom Lande ist von Politzer als ein »Am ha-’arez« identifiziert worden, 174–175; Urzidil, 33; Robert, 163.
Karl Emil Franzos, »Der Ahnherr des Messias«, Vom Don zur Donau: Neue Kulturbilder aus Halb-Asien, 2. Aufl., (2 Bde., Stuttgart 1889), Bd. 2, 267.
Vgl. Simon Dubnow, Geschichte des Chassidismus, übers. v. A. Steinberg (2 Bde., Berlin 1931), Bd. 2, 288.
Georg Büchner, Werke und Briefe (München 1965), 62.
Vgl. z.B. Günther Anders, Kafka: Pro und Contra (München 1951), 28; Stern, 35–36.
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Robertson, R. (1988). In Schuld Verstrickt. In: Kafka. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03255-3_3
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