Zusammenfassung
Kafka ist als deutschsprachiger Jude in Prag aufgewachsen, wo man vorwiegend Tschechisch sprach. Dieser Sachverhalt ist auf zwei unterschiedliche, ja einander ausschließende Arten beschrieben worden. Sogar die Erinnerungen derjenigen, die mit Kafka zusammen die Schule besucht haben, widersprechen einander. Sein enger Freund Felix Weltsch, der in der Klasse unter ihm auf dem Altstädter Gymnasium war, behauptet, ihre Generation sei einbezogen gewesen in eine »jüdisch-deutsche Symbiose«: das heißt, man identifizierte sich naiv und unreflektiert mit der deutschen Minderheit in Prag, bis, wie Weltsch es formuliert, »die aufgestauten Ströme volksmäßiger und religiöser Kräfte sich ihren Weg von den tiefsten Quellen der Seele bis an die Oberfläche des tätigen Bewußtseins bahnten.« Diese Vorgänge hätten sie ihre jüdische Identität wiederentdecken und sich der zionistischen Bewegung anschließen lassen.[1] Eine davon abweichende Darstellung gibt jedoch Kafkas Klassenkamerad Emil Utitz. In seiner Erinnerung lebten die Prager Juden in »inselhafter Abgeschlossenheit«: Ohne Kontakt mit den Deutschen und fast ohne Kontakt mit den Tschechen bildeten sie eine Art von freiwiligem Ghetto.[2] Diese zweite Ansicht ist durch einen anderen Prager Emigranten, nämlich durch Heinz Politzer, zu einem Gemeinplatz der Kafka-Forschung geworden.
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Anmerkungen
Felix Weltsch, »The Rise and Fall of the Jewish-German Symbiosis: The Case of Franz Kafka«, LBY 1 (1956), 276.
Emil Utitz, »Erinnerungen an Franz Kafka«, in: Klaus Wagenbach, Franz Kafka: Eine Biographie seiner Jugend, 1883–1912 (Bern 1958), 267.
Heinz Politzer, Franz Kafka: Parable and Paradox, 2. Aufl. (Ithaca, NY, 1966), 9. — Hier zitiert nach: H.P., Franz Kafka. Der Künstler (Frankfurt 1978), 27.
Die folgende Darstellung basiert auf Wagenbach, Biographie; Christoph Stölzl, Kafkas böses Böhmen: Zuz Sozialgeschichte eines Prager Juden (München 1975);
Gary B. Cohen, »Jews in German Society: Prague, 1860–1914«, Central European History, 10 (1977), 28–54;
Hartmut Binder (Hrsg.), Kafka-Handbuch (2 Bde., Stuttgart 1979);
Cohen, The Politics of Ethnical Survival: Germans in Prague, 1861–1914 (Princeton 1981).
Zu Mauscheldeutsch vgl. Heinrich Teweles, Der Kampf um die Sprache (Leipzig 1884);
Fritz Mauthner, Prager Jugendjahre (München 1918, repr. Frankfurt 1969), 30–31; Wagenbach, Biographie, 86; und — mit vielen wichtigen Informationen —
Caroline Kohn, »Der Wiener jüdische Jargon im Werke von Karl Kraus«, MAL 8 (1975), 240–267.
Max Brod, Jüdinnen (Berlin 1911, neu aufgel. Leipzig 1915), 54.
Vgl. Pavel Eisner, Franz Kaßa and Prague (New York 1950), 27–38.
Kurt Krolop, »Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des ›expressionistischen Jahrzehnts‹«, in: Eduard Goldstücker (Hrsg.), Weltfreunde: Konferenz über die Prager deutsche Literatur (Prag 1967), 51, 75.
Vgl. Carl E. Schorske, Fin-de-siècle Vienna: Politics and Culture (Cambridge 1981), 146–175.
Hans Kohn, Living in a World Revolution (New York 1964), 37.
Vgl. Weltsch, Religion und Humor im Leben und Werk Franz Kafkas (Berlin-Grunewald 1957), 35;
Brod, Streitbares Leben (München 1960), 346–348.
S.H. Bergman (sic!), »Erinnerungen an Franz Kafka«, Universitas, 27 (1972), 742. Vgl. T 222.
Vgl. Brod, Über Franz Kafka (Frankfurt 1966), 46, 276;
Paul Raabe, »Franz Kafka und der Expressionismus«, ZfdP 86 (1967), 161–175.
Lulu Gräfin Thürheim, Mein Leben: Erinnerungen aus Österreichs großer Welt (4 Bde., München 1913), Bd. II, 48.
František Cervinka, »The Hilsner Affair«, LBY 13 (1968), 147.
Zitiert bei Gerhard Neumann, Franz Kafka, »Das Urteil«: Text, Materialien, Kommentar (München 1981), 36.
Brod, Über Franz Kafka, 270; Weltsch 38; Klara P. Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum (Königstein 1981), 162–166.
Vgl. Brod, Der Prager Kreis (Stuttgart 1966), 111–112; Bergmann, »Erinnerungen«, 743.
Vgl. Helen Milfull, »Franz Kafka — The Jewish Context«, LBY 23 (1978), 227–238. Sie gibt eine gute Einführung in diesen Sachverhalt. Das gilt auch, trotz seines gekünstelten Stils, für
Walter Jens, »Ein Jude namens Kafka«, in: Thilo Koch (Hrsg.), Porträts deutsch-jüdischer Geistesgeschichte (Köln 1961), 179–203. Die beste und gründlichste Studie über Kafka und das Judentum bietet
Anne Oppenheimer, »Franz Kafka’s Relation to Judaism« (D. Phil. thesis, Oxford 1977).
Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten (3 Bde., Heidelberg 1972–1975), Bd. 1,473.
Vgl. Samuel J. Citron, »Yiddish and Hebrew Drama«, in: Barrett H. Clarke und George Freedly (Hrsg.), A History of Modern Drama (New York 1947), 601–638.
Hutchins Hapgood, The Spirit of the Ghetto, hrsg. v. Moses Rischin (Cambridge/Mass. 1967), 137.
Alfred Döblin, Reise in Polen (Olten 1968), 146.
Vgl. Shlomo Avineri, The Making of Modern Zionism (London 1981), 23–35.
M. Pinès, Histoire de la littérature judéo-allemande (Paris 1910). Vgl. »Pinès, Meyer Isser«, Encyclopaedia Judaica, Bd. 13, 533–534.
Theodor Herzl, Gesammelte zionistische Werke (5 Bde., Berlin und Tel Aviv 1934–1935) Bd. 2, 195.
Heinrich Heine, Die romantische Schule, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. E. Elster (7 Bde., Leipzig 1893), Bd. V, 248.
Harold Bloom, The Anxiety of Influence (New York 1971).
Roy Pascal, Kafka’s Narrators: A Study of his Stories and Sketches (Cambridge 1982), 48.
Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kafka: Pour une littérature mineure (Paris 1975), 46–48; deutsche Ausgabe: G.D./F.G., Kafka: Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen übersetzt von Burkhart Kroeber (Frankfurt 1976).
Vgl. »A Friend of Kafka« in: Isaac Bashevis Singer, Collected Stories (London 1982), 277–286. Die letzten Lebenszeichen von Löwy stammen aus dem Warschauer Ghetto. Dort hat er hebräische Dichtungen vorgetragen, um den Überlebenswillen seiner Mitgefangenen zu stärken. Vgl. dazu Lucy Dawidowicz, The War against the Jews (London 1975), 257.
Als Beispiel für eine sehr überzeugende Untersuchung des literarischen Einflusses, nämlich von Kleists Der Findling, vgl. F. G. Peters, »Kafka and Kleist: A Literary Relationship«, OGS 1 (1966), 117–124. Die Suche nach literarischen Quellen verkommt jedoch zur bloßen Jagd nach Parallelen, wenn Urs Ruf, Franz Kafka: Das Dilemma der Söhne (Berlin 1974), 51, Ähnlichkeiten zwischen Das Urteil und Storms Hans und Heinz Kirch aufweist — einer Geschichte, die Kafka niemals erwähnt und wohl auch niemals gelesen hat.
Franz Werfel, »Die Riesin: Ein Augenblick der Seele«, Herder-Blätter, 1. IV–V (Oktober 1912), 41–43.
Ingo Seidler, »Das Urteil: ›Freud natürlich‹? Zum Problem der Multivalenz bei Kafka«, in: Wolfgang Paulsen (Hrsg.), Psychologie in der Literaturwissenschaft (Heidelberg 1971), 188. Zu Kafkas Meinung über die Psychoanalyse vgl. S. 204 oben.
Vgl. Claudio Magris, Weit von wo: Verlorene Welt des Ostjudentums, aus dem Ital. übers, v. Jutta Prasse (Wien 1974), bes. S. 71.
Zur jüngeren Diskussion über Georgs Schuld und als Überblick über frühere Interpretationen vgl. H.H. Hiebel, Die Zeichen des Gesetzes: Recht und Macht bei Franz Kafka (München 1983), 117–120.
Gerhard Kurz, »Einleitung: Der junge Kafka im Kontext«, in: Gerhard Kurz (Hrsg.), Der junge Kafka (München 1983), 117–120.
E.T. Beck, Kafka and the Yiddish Theater (Madison/Wisc. 1971), Kap. 5. Für die Zusammenfassung der Handlung von Gott, Mensch und Teufel vgl. dort S. 72–74; für die Zusammenfassungen von Die Schchite und Der wilde Mensch vgl. Hapgood, 143–146.
Vgl. J.J. White, »Endings and Non-endings in Kafka’s Fiction«, in: Franz Kuna (Hrsg.), On Kafka: Semi-Centenary Essays (London 1976), 146–166.
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Robertson, R. (1988). Kafkas Hinwendung Zum Judentum. In: Kafka. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03255-3_1
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