Zusammenfassung
Karl Hillebrand hat vor Kurzem der Ansicht Ausdruck gegeben, daß der heutige Roman mit geringen Ausnahmen zum bloßen Tendenzroman geworden sei, der, wenn auch in den besseren Dichtungen verdeckt, auf irgend eine Moral oder Spekulation hinauslaufe, die den reinen ästhetischen Genuß desto mehr herabdrücke, je stärker sie hervortrete. Diese Beobachtung ist zweifellos richtig, sie hat auch mir den ersten Anstoß zu diesem Waffengange gegeben, aber Hillebrand gründet sie weder tief genug noch weiß er klare Folgerungen aus ihr zu ziehen. Zunächst hätte Hillebrand seinen Vorwurf nicht allein gegen unsre Zeit, er hätte ihn gegen die Mittelmäßigkeit aller Zeiten richten sollen, denn es war stets ein Bedürfniß der Mittelmäßigkeit, Dichtung und Moral zu verquicken, und hier und da wurden auch große Talente von dieser Seuche ergriffen. Die Pamela und der Grandison leisteten in ihrer Weise dasselbe, was die modernen Naturalisten auf ihre Weise versuchen. Aber der feinsinnige Historiker hat auch die Ursache mißkannt, welche das ästhetische Mißbehagen an derlei Romanen erweckt. Die großen Romandichter, auf welche ich mich bezogen, sind Realisten vom Scheitel bis zur Sohle, sie gestalten die Wirklichkeit, die volle, reiche Wirklichkeit mit allen ihren Flecken, mit allen ihren Verzerrungen. Diese Flecken, diese Verzerrungen sind aber, rein äußerlich betrachtet, nur zu oft so widerwärtig, die Wirklichkeit selbst ist nur zu oft so nüchtern, kleinlich und gemein, daß der ästhetische Sinn abgestoßen wird, statt angezogen, daß an seine Stelle sein Widerpart eintritt, die Enttäuschung, der Ekel. Und dennoch haben die Meister es verstanden, die krasse Realität genießbar, selbst das Widerliche ästhetisch erfreulich zu machen.
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Brauneck, M., Müller, C. (1987). Die Gattungen. In: Brauneck, M., Müller, C. (eds) Naturalismus. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03230-0_2
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