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Götter, Helden und Goethe. Zur Geschichtsdeutung in Goethes Iphigenie auf Tauris

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Klassik und Moderne

Zusammenfassung

Der junge Goethe fühlte sich durch die Art und Weise, wie Wieland im dramatischen Genre mit »den Alten« umging, provoziert. In seiner Farce Götter, Helden und Wieland machte er sich Luft und verspottete Wieland, der sich mit seinem Singspiel Alceste in Rivalität zu Euripides begeben hatte: er habe »keine Ader griechisch Blut im Leibe«[1]. Bekanntlich fürchtete Goethe, die Farce könne ein peinliches Hindernis für seine Berufung nach Weimar werden. Da Wieland mit Gelassenheit reagierte, war der Weg nach Weimar frei[2]. Weil die Herausforderung um das richtige Verständnis der Alten aber anhielt, wurde es der Weg zur Klassik Goethes. Goethe antwortete produktiv auf diese Herausforderung: gleichfalls an Euripides orientiert, entstand 1779 die erste Fassung der Iphigenie auf Tauris[3].

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Anmerkungen

  1. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 4. 4. Aufl. Hamburg 1960, S. 203. (Künftig: HA).

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  2. Vgl. Goethe in Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 15. Buch: HA Bd. 10, S. 57ff.

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  3. Vgl. Uwe Petersen: Goethe und Euripides. Untersuchungen zur Euripides-Rezeption in der Goethezeit. Heidelberg 1974, S. 18ff.

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  4. Ich vermeide den Begriff ›Mythos‹. Damit vermeide ich nicht nur den »schlampigen Sprachgebrauch, im Sinne von Gleichnissen für Überzeitliches oder Transzendentes« von Mythos zu sprechen (Theodor W. Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie. In Th. W. A.: Noten zur Literatur IV. Frankfurt a. M. 1974, S. 7–33. Hier S. 8); ich enthalte mich auch der Versuchung, den Tantaliden-Mythos vorschnell mit Bedeutungen zu belasten, die in der fiktionalen Welt des Dramas unter Umständen gar nicht vorrangig gemeint sind. In der Iphigenie-Forschung wird, so weit ich sehe, immer irgendeine Vorentscheidung getroffen, wenn von den Tantaliden die Rede ist: von Chiffre des christlichen Erbzwangs, Erbsünde, Erbschuld, vom Schuldzusammenhang des Lebendigen, von leibhaftiger Verstricktheit in Natur, von dunklem Schicksal usw. wird da gesprochen. Sicher ist richtig, daß Goethe die Tantaliden als »Chiffre« — so Arthur Henkel: Die »verteufelt humane« Iphigenie. In: Euphorion 59 (1965), S. 1–17. Hier S. 7 — einsetzt. Was er mit ihr im Iphigenie-Drama aber vorhat, in welchem Sinne er die »Chiffre« verwendet, ist nicht ohne weiteres ausgemacht. Mir kommt es hier nicht darauf an, die Chiffre zu deuten, deren Deutung im übrigen weit in Goethes Lebensverständnis hineinreicht, sondern ihre Funktion zu zeigen. Dabei nehme ich mir Karl Philipp Moritz’ Aussage zu Herzen: »Die Göttergeschichte der Alten durch allerlei Ausdeutungen zu bloßen Allegorien umbilden zu wollen ist ein ebenso törichtes Unternehmen, als wenn man diese Dichtungen durch allerlei gezwungene Erklärungen in lauter wahre Geschichten zu verwandeln sucht« (K. Ph. Moritz: Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten […]. Leipzig 1966, S. 8).

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  5. So Christa Bürger: Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst. Literatursoziologische Untersuchungen zum klassischen Goethe. Frankfurt a. M. 1977, S. 177.

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  6. Textnachweise künftig nach: HA Bd. 5, 2. Aufl. Hamburg 1955.

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  7. Schon hier kann deutlich werden, daß das ›immanente‹ Verfahren, auf das zunächst sich einzulassen ich den Leser bitten muß, auch die Dramenstruktur nicht aus dem Auge zu verlieren braucht, wenn ich nach Geschichte frage. Das unterscheidet mein Vorgehen grundsätzlich von den beiden Untersuchungen zu Iphigenie, die ich für die gewichtigsten halte: Arthur Henkel verfolgt mit Könnerschaft die »schwebende Spannung des dramatischen Vorgangs« (Arthur Henkel: Goethe. Iphigenie auf Tauris. In: Das deutsche Drama. Vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen. Hg. v. Benno von Wiese. Bd. 1. Düsseldorf 1958, S. 169–192. Hier S. 170. — Vgl. auch Anm. 4). Wolfdietrich Rasch spürt — verdienstvoller Weise vor dem Hintergrund aufklärerischen Denkens — einläßlich den Figuren und ihrer »Autonomie« nach (Vgl. W. Rasch: Goethes Iphigenie auf Tauris als Drama der Autonomie. München 1979).

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  8. Die ›Heilung‹ Orests macht der Forschung viel Kopfzerbrechen. Daß Orest an »Gewissensqual« leide, die durch eine Art »selbstquälerischer Buße« geheilt werde, wie Rasch (Autonomie, S. 123 u. 124) meint, ist wohl zu viel ›Vorgabe‹ an Autonomie, und die »Sühne« ist noch nicht deshalb ein »autonomer Vorgang«, weil sie »›rein menschlich‹ und nicht sakral« (S. 125) war — es sei denn, das Naturhafte, das hier offensichtlich im Spiele ist, würde ohne weiteres der menschlichen »Autonomie« zugeschlagen. Das dunkle Numinose ist mit dem griechischen Mythos in Goethes Drama anwesend; nicht alles läßt sich da mit aufklärerischem Licht besehen. Eher stimme ich Henkel zu, wenn er im Zusammenhang mit der ›Heilung‹ sagt: »hier wird der Mythos erledigt, seine Weltdeutung wird entmächtigt« (Die »verteufelt humane«, S. 12).

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  9. Rasch (Autonomie, S. 149) sieht in der Gebärde des »Haupt«-Schütteins nur eine »Gebärde der Verneinung, der unwilligen Ablehnung«, gar des »Unwillens«.

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  10. Henkel (Die »verteufelt humane«, S. 14) und Rasch (Autonomie, S. 149) sind der Ansicht, Iphigenie selbst würde das Lied gleichsam ›weiterdichten‹; das scheint mir aus dem Text nicht hervorzugehen. Daß sie sich das Lied aber ganz zu eigen macht, meine ich auch, sehe allerdings weiterführende Bedeutung darin.

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  11. Es ist also keineswegs so, daß, wie Christa Bürger meint, »im Prozeß der Humanisierung einzig der Widerstand im Innern der Subjekte überwunden« wird (Ursprung, S. 190) oder daß Iphigenie ein Stück sei, »in dem es nicht um die Diskussion bürgerlicher Normvorstellungen und Verhaltensweisen geht« (S. 196). Gerade eine literatursoziologisch orientierte Studie müßte den Text genau zur Kenntnis nehmen. — Rasch ist zuzustimmen, wenn er im Zusammenhang mit dieser Szene sagt: »in der äußersten, von zwei Seiten sie bedrohenden Bedrängnis erweist sich ihre innere Unabhängigkeit, die Selbstsicherheit einer seelisch freien, ihren Anspruch auf Freiheit verteidigenden Person« (Autonomie, S. 152). Er hat auch den »aktuellen Bezug« zum »gesellschaftlich-politischen Bereich«, den diese Szene besitzt, betont (S. 153f.).

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  12. In der Prosafassung (1781) lautet die Stelle: »und diese Folgsamkeit ist einer Seele schönste Freyheit« (zitiert nach: Erläuterungen und Dokumente. Johann Wolfgang Goethe. Iphigenie auf Tauris. Hg. v. Joachim Angst u. Fritz Hackert. Stuttgart 1969, S. 20).

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  13. Jauß meint, »Iphigenies Wagnis ist kein Handeln aus rein menschlicher Autonomie« (Hans Robert Jauß: Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hg. v. Rainer Warning. München 1975, S. 353–400. Hier S. 373) — demgegenüber geht es Rasch darum, eben diese Autonomie nachzuweisen. Er sieht nun aber in der Wahrheit, die sie spricht, die letzte List Iphigenies bzw. die Antwort auf folgende »Alternative«: »ängstliches Schweigen, das den Bruder wahrscheinlich zugrunde gehen läßt, oder mutiges Geständnis, das den König vielleicht zur Begnadigung der Tempelräuber bewegt« (Autonomie, S. 160). Solche spekulativen Erwägungen sind Iphigenie allerdings fremd: im Text kommen sie nicht vor.

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  14. Rasch kommt zu seiner anderen Deutung, weil er den Vers »Und eine reine Seele braucht sie nicht« (V. 1874) mißversteht: er ist keine neue Ausflucht, sondern der »List« (des vorangegangenen Verses) entgegengestellt, die Iphigenie schon früher als Einschränkung ihrer »Autonomie« empfunden hatte (Vgl. Rasch: Autonomie, S. 159f.). Jauß schafft von hier ausgehend einen neuen Mythos: den »Mythos des reinen erlösenden Weiblichen« (Jauß: Racine, S. 374). — Vgl. zur Idee der Reinheit: Adolf Beck: Der ›Geist der Reinheit‹ und die ›Idee des Reinen‹ […] In A. B.: Forschung und Deutung[…] Frankfurt a. M. 1966, S. 69–118.

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  15. Rasch hat mit Recht den verantwortlichen Herrscher herausgestellt und betont, daß die Menschlichkeit am Ende nicht gesichert ist. — Weil sie die neue Rolle des Königs nicht wahrnehmen, sondern meinen, Iphigenie würde »Unmündigkeit« zurücklassen, kommen Adorno und ihm folgend Jauß und Bürger zu einem ans Groteske grenzenden Mißverständnis der Iphigenie: »Zivilisation, die Phase des mündigen Subjekts, überflügelt die mythischer Unmündigkeit, um dadurch schuldig an dieser zu werden und in den mythischen Schuldzusammenhang hineinzugeraten. Zu sich selbst, und zur Versöhnung, gelangt sie nur, indem sie sich negiert, durchs Geständnis, das die kluge Griechin dem humanen Barbarenkönig ablegt« (Adorno: Klassizismus, S. 14). Adorno kommt zu seiner Ansicht, weil er den »Mythos« von vornherein belastet, nämlich als »mythische Schicht«, die »kein Symbol« sei »für Ideen, sondern leibhaftige Verstricktheit in Natur« und weil er, Iphigenies Welt selbst einrichtend, voraussetzt: »Die pragmatische Voraussetzung der Iphigenie ist Barbarei« (S. 12), wobei auch die Differenzierungen, die der Text zwischen dem »Wilden«, dem »Menschen« und dem »Barbaren« vornimmt, nicht beachtet sind: In ›Wildheit‹ fällt diese Welt nicht zurück, »menschlich« im Sinne von Iphigenies Glauben kann sie nicht sein, »barbarisch« bleibt sie aufgrund der ›Sachzwänge‹, die sie regieren.

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Segebrecht, U. (1983). Götter, Helden und Goethe. Zur Geschichtsdeutung in Goethes Iphigenie auf Tauris. In: Richter, K., Schönert, J. (eds) Klassik und Moderne. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03181-5_8

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