Bürgerliche Melancholie im Spiegel lyrischer Subjektivität

Zusammenfassung

Lepenies vertritt in seiner Untersuchung über »Melancholie und Gesellschaft« [1] die These, daß die bürgerliche Intelligenz im wachsenden Selbstbewußtsein ihres ökonomischen Einflusses die Einsicht in die reale Machtlosigkeit innerhalb der deutschen Feudalgesellschaft dadurch zu kompensieren sucht, daß sie gegen die Faktizität politischer Unfreiheit die innere Freiheit des Geistes propagiert, sie sich aus »erzwungene(r) Entlastung von der Macht« [2] der Reflexion der eigenen Innerlichkeit zuwendet. »Reflexion bedeutet nichts weiter als den Zwang (und die Chance) des Zurückwendens des Menschen auf sich selbst, wenn er vom Handlungsdruck entlastet ist. Diese >Entlastung< kann ungewünscht, weil durch die Herrschaftsverhältnisse bestimmt, erfolgen. Das ist die Situation der deutschen Bourgeoisie. Die Reaktion schlägt nach innen: >Ach, was ich weiß, kann jeder wissen — mein Herz habe ich allein<, wie Werther schreibt. Die kommunikativen Bindungen zur Gesellschaft werden damit weitgehend gelöst, und es bilden sich Ersatzformen, die dem Individuum ein höheres Maß an emotionaler Gratifikation liefern. […] Der Reflexionsaspekt der bürgerlichen Melancholie bedeutet keine Erscheinung der Ratio, sondern die Rückwendung der entmachteten Subjektivität auf sich selbst und den Versuch, aus der Handlungshemmung ein Mittel der Selbstbestätigung zu machen.« [3] Literatur wird da — »wie immer im Zusammenhang von Reflexion, Handlungshemmung und Melancholie« — »als Ausweg für sozial versperrte Wege von Bedeutung«.