Zusammenfassung
Der Roman, aus der romantischen Poesie hervorgegangen, will, wie diese, auf unsre Einbildungskraft wirken. Daher sucht er durch den Schleier des Geheimnisses den Leser zu spannen; er wählt gern ungewöhnliche Begebenheiten, auffallende Charaktere, die an sich schon unsre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen; er versetzt uns auf eine geschichtliche Weltbühne, weckt Erinnerungen an merkwürdige Veränderungen und Umwälzungen im Leben eines ganzen Volks, die unser Interesse erregen, unsere Einbildungskraft in Bewegung setzen. Hier aber ist es, wo der Roman, als das reflektirende Epos sich wesentlich von den romantischen Dichtwerken unterscheidet. Es giebt nicht wenige unter den neueren Romanen, auch denen Walter Scotts, die ihren Stoff dem Mittelalter entlehnt haben, z. B. Scotts »Iwanhoe«. Wenn nun aber dem Helden der Epopöe da, wo sein Muth und seine Kühnheit nicht ausreichen, oder wo er den Knoten der Verwicke[60]lung nicht lösen kann, ein Gott oder Zauberer hülfreich erscheint, so kann der Held des Romans dagegen sich nur auf seine Klugheit, auf die glückliche Benutzung der Umstände verlassen. Auch ist es wesentlich die Gesinnung der handelnden Personen, die Entwickelung des Charakters an den äußeren Begebenheiten, welche im Roman unsre Theilnahme weckt. Auf diese Weise, meine ich, hat W. Scott, haben alle besseren Romandichter auch in Ritterromanen den Geist der Reflexion, die verständige Weltbetrachtung als den Charakter unserer Zeit uns zur Anschauung gebracht. So angenehm nun aber auch unsre Einbildungskraft von solchen Romanen angesprochen wird, so möchte doch wohl ein uns näher verwandter Stoff dem modernen Epos noch angemessener sein.
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Nachweise und Anmerkungen
Goethe sagt im »Meister«: in Buch V, Kap. 7; vgl. hier S. 6 und die Anm. dazu.
sagt Goethe: an der S. 71 (s. o.) bereits zitierten Stelle
Verfasser des »Tom Jones«: Vgl. Fielding, The History of Tom Jones, a Foundling I, 1.
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Meyer, W. (1976). Aus: Drei Vorlesungen über das Wesen der epischen Poesie und über den Roman und die Novelle insbesondere 1829/30. In: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03055-9_14
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